Wie eine Rose im Morgentau
dachte sie düster.
Als er die andere Hand hob und mit dem Daumen über ihre Wange strich, verwirrte er sie noch mehr. „Sieh mich nicht so an, Rachel“, bat er.
Sie drehte ihren Kopf zur Seite. „Wie denn?“
„Wie ein Kätzchen, das getreten wurde.“
„Das tu ich doch gar nicht“, rief sie aufgebracht.
Sein Lachen klang jetzt vergnügt. „Na schön, dann eben wie eine ausgewachsene Katze, die so beleidigt ist, dass sie am liebsten kratzen würde.“ Er legte den Kopf schräg und ignorierte die Grimasse, die sie ihm schnitt. „Vielleicht eine Siamkatze … nein, die haben blaue Augen, oder? Gibt es eigentlich eine Katze mit großen braunen Augen und goldenen Flecken darin?“
Forschend sah er sie an, und sie zwang sich, den Blick abzuwenden. „Ich habe keine Ahnung“, entgegnete sie bewusst gelassen und befreite sich aus seinem Griff. „Wir sehen uns dann morgen früh.“
Langsam ging er in die Küche, machte sich einen Kaffee und setzte sich mit der dampfenden Tasse an den Tisch. Ein Tag voller Höhen und Tiefen lag hinter ihm. Er war nicht versucht gewesen, Kinzi darum zu bitten, bei ihm zu bleiben. Er würde sich mit Wärme und ein wenig Bedauern ihrer erinnern, doch das Bedauern würde vergehen. So war es in der Vergangenheit immer gewesen.
Und was seine Mutter betraf, so vermutete er, dass ihr Herz nicht ganz in Ordnung war.
Tief seufzte er auf. Als er Rachel eben dabei beobachtet hatte, wie sie mit ernstem Gesicht über einem alten Geschäftsbrief gebeugt saß, hatte er auf einmal das Gefühl gehabt, dass die Last des Tages plötzlich nicht mehr so schwer auf seinen Schultern drückte.
Trotzdem hatte er Rachel grundlos verletzt. Aber sie war nicht nachtragend, und hatte ihn mit einem Lächeln auf den Lippen zurückgelassen. Sie hatte es immer geschafft, ihn zum Lachen zu bringen. Bis er einen der größten Fehler seines Lebens gemacht hatte, ohne zu wissen, wie er es wiedergutmachen könnte.
Mit der Kaffeetasse in der Hand stand er auf und starrte aus dem Küchenfenster. Hell leuchtend stand der Mond über den hohen Bäumen. Auch wenn er nur Schatten sehen konnte, wusste er genau, wo das Sommerhaus lag. Das Sommerhaus, wo er an einem dunklen Herbstabend von einem Mädchen gefunden worden war, das er immer nur als Nachbarskind gesehen hatte und das miterlebte, wie er im Alkohol Vergessen zu finden suchte.
4. KAPITEL
Damals hatte Bryn noch auf Rivermeadows gelebt und stellvertretend neben seinem Vater das Familienunternehmen geleitet. Nachdem er achtzehn geworden war, kam und ging er, wie es ihm gefiel.
An besagtem Abend hatte er seinen Eltern erzählt, dass er sich mit Freunden treffen würde. Stattdessen hatte er sich, bewaffnet mit einem Sechserpack Bier und einem Schlafsack, ins Sommerhaus verzogen. Als Kind hatte er in den Ferien manchmal Freunde oder Cousins hierher eingeladen. Doch diesmal wollte er allein sein.
Warum also hatte er Rachel nicht fortgeschickt, als sie unerwartet auftauchte und einen kleinen Schrei unterdrückte, weil schon jemand im Sommerhaus war.
Sie schien wie ein helles Licht, das in das kleine Haus drang. Im Mondlicht, das durch die geöffnete Tür fiel, zeichneten sich unter dem luftigen weißen Ding, das sie trug, ihre Beine ab. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass dies nicht mehr die dünnen Beine eines Kindes waren, sondern gut geformte Oberschenkel, die … Verwirrt bot er seinen Gedanken Einhalt. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum letzten Mal in einem Kleid gesehen hatte.
„Rachel!“ Seine Stimme klang schroff. „Was machst du hier? Du solltest längst im Bett sein.“
Das Lachen, das sie ausstieß, hatte nichts von einem kindlichen Kichern, und der raue Klang verwirrte ihn noch mehr. „Es ist doch noch nicht spät. Außerdem bin ich kein Kind mehr.“
Er hatte es nicht gewusst – bis zu diesem Augenblick. Hatte sie nicht im letzten Jahr ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert? Sie ist kein Kind mehr, flüsterte eine Stimme in ihm.
Schnell verdrängte er den Gedanken. Er hatte kein Interesse an Teenagern. Vor allem nicht an Rachel, die er seit ihrem fünften Lebensjahr kannte.
Sie stieg über den Schlafsack, den er am Boden ausgebreitet hatte. „Schläfst du hier? Warum?“ Anmutig ließ sie sich neben ihm nieder, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie.
„Weil ich allein sein will.“
„Oh.“ Sie klang enttäuscht. „Tut mir leid. Soll ich wieder gehen?“
„Nein.“ Er wusste selbst nicht, was er wollte.
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