Wie es dem Glück beliebt
nötig auf die Probe stellen.
Sie brauchte fast eine Minute, um die Tür zu öffnen. Für gewöhnlich war sie viel schneller, aber ihre Hände zitterten heftig, und das Blut, das in ihren Ohren rauschte, machte es schwer, auf das Klicken des Schließmechanismus zu lauschen.
Schließlich hatte sie Erfolg und stellte erfreut fest, dass sie den richtigen Raum ausgewählt hatte. Ihr erster Gedanke allerdings war, dass es hier zu dunkel war. Sie ging zu den Fenstern hinüber und zog die Vorhänge zurück, erleichtert darüber, dass der Mond ihr hell ins Gesicht schien. Schnell öffnete sie die Vorhänge der anderen Fenster. Für ihren Geschmack war es immer noch zu dunkel, doch sie hatte genug Licht, um ihre Furcht im Zaum zu halten und zu sehen, was sie tat.
Sie begann mit dem Schreibtisch. Er war übersät mit Papieren; sie konnte sie unmöglich alle lesen. Sie blätterte in den Stapeln, in der Hoffnung, dass ihr etwas ins Auge stechen würde. Sie malte sich aus, wie sie einen dreifach versiegelten Umschlag mit dem Wort GEHEIM finden würde, womöglich mit Blut geschrieben.
Als ihre Suche nichts Schändlicheres ergab als einen Lieferschein über teuren Schmuck für eine Frau, die nicht die Viscountess war, trat Sophie hinter den Schreibtisch und begann, die Schubladen zu öffnen. In den ersten drei befanden sich Schreibwaren, ein Rechnungsbuch und weiterer Papierkram, der die Verwaltung des Calmaton’schen Gutes betraf. Die vierte Schublade war verschlossen. Mit einem leisen Fluch zog Sophie ihre Nadel wieder heraus und machte sich an die Arbeit. Dies kostete zu viel Zeit. Der Walzer war bereits zu Ende, und der letzte Tanz würde es bald ebenfalls sein.
Mit einem geflüsterten Gebet zog sie die Schublade auf und hätte beim Anblick weiterer Briefe beinahe aufgestöhnt. Sie waren samt und sonders auf Französisch geschrieben. Nervös blätterte sie den Stapel durch. Zum ersten Mal bedauerte Sophie es, dass sie sich dafür entschieden hatte, Mandarin und Hindi zu lernen statt des viel populäreren Französischen. Sie ergriff einen der Briefe und betrachtete die bedeutungslosen Worte. Was, wenn sie von einem Verwandten oder einer Geliebten waren? Ihr Blick fiel auf den unteren Rand der Seite, und sie blinzelte überrascht. Das Schreiben war nicht unterzeichnet. Noch einmal betrachtete sie die anderen Briefe in der Schublade. Keiner von ihnen war unterschrieben. Gewiss würde ein geliebter Mensch die Briefe signieren.
Sie steckte das Papier ein, dann wühlte sie in den restlichen Briefen, fand einen Umschlag und nahm auch diesen mit. Hoffentlich war ihr Fund irgendetwas wert. Jedenfalls näherte sich das Musikstück seinem Ende, und in wenigen Minuten würden viele Gäste den Ballsaal verlassen. Sie hatte keine Zeit mehr.
Sie verschloss die Schublade wieder, zog die Vorhänge zu und hielt dann an der Tür inne, um auf Schritte im Flur zu lauschen. Als sie feststellte, dass alles still war, stahl sie sich aus dem Studierzimmer, verschloss die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg zum Ruheraum der Damen.
6
Der nächste Tag versprach zumindest, ausgefüllt zu werden. Sophie stand gewohnheitsmäßig früh auf und ignorierte nach Möglichkeit die Tatsache, dass sie erst vier Stunden zuvor zu Bett gegangen war. Es blieb ihr gerade noch genug Zeit fürs Frühstück, bevor sie einen Ausflug zu den Sehenswürdigkeiten Londons vorschützen würde, um eine Gelegenheit zu bekommen, die aus dem Studierzimmer des Viscounts gestohlenen Papiere weiterzugeben. Danach stand eine letzte Anprobe bei der Schneiderin auf dem Programm und anschließend eine Verabredung zum Tee mit Mirabelle Browning und deren Freundin Lady Kate Cole. Dann würde sie heimkehren müssen, um sich auf Loudors Dinnerparty vorzubereiten.
Ihre Angelegenheiten bei dem Rechtsanwalt waren schneller erledigt als erwartet. Sophie hatte damit gerechnet, dass man sie nach zusätzlichen Informationen fragen oder ihr vielleicht etwas zu dem Inhalt des Briefes, den sie abgeliefert hatte, sagen würde. Aber der Anwalt, ein untersetzter Mann in mittleren Jahren mit einer dicken, runden Nase, hatte nur den Umschlag mit dem Brief entgegengenommen und eine Bemerkung darüber gemacht, wie wenig ratsam es sei, dass eine junge Dame ohne angemessene Begleitung Geschäftsbüros aufsuchte.
Sophie hatte ihre liebe Not, über diese Albernheit nicht geradewegs in Gelächter auszubrechen. Man bezahlte sie dafür, zu spionieren, zu stehlen und alle möglichen Dinge zu tun,
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