Wie es uns gefällt
deiner Schwester bei der Suche nach ihrer Haarnadel. Sie hat sie verlegt.»
Charles kam gerade vom Garten herein und war überrascht, dass man ihn als den Teufel begrüßte. «Wo hast du sie denn verloren, Schwesterherz?»
Mary schüttelte den Kopf. «Nirgendwo.» Sie packte ihren Bruder an der Hand, und er half ihr auf. «Ich habe mich geirrt. Alles in Ordnung.»
«Mr Ireland kam eben vorbei», sagte Mrs Lamb zu ihrem Sohn. Es sollte bedeutsam klingen.
«Tatsächlich? Ist er nicht geblieben?»
«Mary hat mit ihm an der Haustür gesprochen.»
«Er war anderweitig beschäftigt, Mama.» Mary stützte sich auf den Arm ihres Bruders.
«Er scheint ein viel beschäftigter junger Mann zu sein», sagte Charles.
In Wahrheit beneidete Charles allmählich William Ireland. Binnen eines Monats hatte der Herausgeber der Westminster Words bereits zwei von Irelands Essays veröffentlicht: «Das komische Element in König Lear» und «Wortspiele bei Shakespeare». Außerdem hatte er ihn aufgefordert, mehrere Skizzen über Shakespeare-Figuren zu schreiben. Charles’ eigener Essay über die Kaminkehrer harrte noch der Veröffentlichung. Allerdings hatte ihn Matthew Law um einen ähnlichen Artikel über die Bettler in der Metropole gebeten. Der Herausgeber wollte, dass sich Charles dabei weniger auf die sehr bedürftigen oder verkommenen Bettler konzentrierte, sondern auf schillernde und exzentrische Gestalten. Leider waren Charles bisher nur wenige dieser Art begegnet. An der Ecke Gray’s Inn Lane und Theobald’s Road bettelte immer ein Zwerg, der ab und zu unter den Pferdebäuchen durchschoss, um die Tiere zu erschrecken. Bei St. Giles stand eine kahlköpfige Frau, die sich für einen Halfpenny auf die Straße fallen ließ. Leider war er sich nicht sicher, ob diese beiden ihm Anregungen zu nachhaltigen Betrachtungen über das Leben der Obdachlosen in der Stadt bieten konnten.
Durfte er sich eigentlich überhaupt als Schriftsteller bezeichnen? Jedenfalls nicht hauptberuflich, dagegen sprach bereits seine Stelle bei der Ostindien-Kompanie. Er besaß keine Vision, die ihn über sämtliche Schwierigkeiten und Enttäuschungen eines Lebens hinwegtragen würde, das ganz der Literatur gewidmet war. Er verglich seine eigene Situation mit der von William Ireland, der in der Entdeckung der Shakespeare-Manuskripte ein großes Thema gefunden hatte. Ireland könnte eines Tages vielleicht sogar ein Buch schreiben.
«Möchtest du weitermachen?», fragte ihn Mary.
«Wie bitte, Schwesterherz?»
«Draußen im Garten. Ist die Probe beendet?»
«Ich denke schon. Ja.» Er ließ sich von Marys unausgesprochenem Wunsch beeinflussen. Offensichtlich sehnte sie sich danach, allein zu sein.
«Wir müssen uns alle mal abends treffen. Noch in dieser Woche.» Sie nahm ihre Hand von Charles’ Arm und ging zur Tür. «Bitte sie, die nächste Szene vorzubereiten.»
Am nächsten Mittwochvormittag spazierte Mary Lamb mit William Ireland am Bridewell Wharf die Treppe zum Wasser hinunter, deren Holzstufen vom vielen Hin und Her schon ganz glatt gelaufen waren. Da es außerdem geregnet hatte, hakte William sie unter und half ihr ans Flussufer.
Mary entschuldigte sich, weil sie so langsam war. «Ich befürchte, das wirkt nicht sehr graziös.»
«Es sieht nicht ungraziös aus, Mary. Notwendige Dinge haben ihre eigene Eleganz.»
«Sie machen sehr überraschende Bemerkungen.»
«Wirklich?» Er schien ehrlich neugierig zu sein. «Aha, da sind sie ja.»
Drei oder vier Fährmänner standen neben ihren vertäuten Booten am Pier herum. Als sich William nach einer Überfahrt erkundigte, verwiesen sie ihn an einen gewissen Giggs, der als Erster da gewesen war. Allerdings schien er sich nur ungern von einer lebhaften Unterhaltung losreißen zu wollen. An seiner Strickmütze trug er das vergoldete Abzeichen seines Gewerbes, das er aus reiner Gewohnheit mit dem Ärmel abrieb. «Kost’ euch ‘nen Sixpence», meinte er.
«Ich dachte drei Pence.»
«Liegt am Regen. Ganz mies fürs Boot.»
«Wir hätten über die Brücke gehen können», murmelte William, während sie dem Fährmann zur Anlegestelle folgten.
«Die Brücke ist so langweilig, William. Das hier ist aufregend. So macht man das im wirklichen Leben.»
Also kletterten sie in das kleine Boot. William nahm Marys Hand und geleitete sie zu der Holzbank im Heck.
«Leinen los!» Mit diesem typischen Ruf löste Giggs das Seil und stieß das Boot hinaus.
«Würden Sie uns zu den Paris Stairs
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