Wie funktioniert die Welt?
für den Mechanismus der Vererbung. Aber die Doppelhelix reicht mir nicht. Als ich an der Highschool Biologieunterricht hatte, war die Doppelhelix eine alte Geschichte wie die von der Evolution der Birkenspanner oder von den Mitochondrien als Kraftwerken der Zelle. Watson und Crick – so tröstlich, aber auch so selbstverständlich wie Peek und Cloppenburg.
Dann gibt es da die Arbeiten von Hubel und Wiesel: Sie wiesen nach, dass die Großhirnrinde Sinneswahrnehmungen mittels einer hierarchischen Merkmalserkennung verarbeitet. In der Sehrinde beispielsweise nehmen die Neuronen der ersten Schicht den Import einzelner Lichtrezeptoren aus der Netzhaut auf. Mit einem Lichtrezeptor wird also auch »sein« Neuron in der primären Sehrinde stimuliert. Wird der benachbarte Lichtrezeptor angeregt, so wird auch das Nachbarneuron aktiv. Grundsätzlich »weiß« jedes dieser Neuronen nur eines: wie es einen bestimmten Lichtpunkt erkennt. Gruppen solcher Ich-kenne-einen-Punkt-Neuronen schicken dann ihre Fortsätze zu einzelnen Neuronen in der zweiten Rindenschicht. Die Anregung einer bestimmten Anordnung von Nachbarneuronen in der ersten Schicht führt zur Aktivierung eines einzelnen Neurons in der zweiten. Das Neuron der zweiten Schicht weiß wiederum nur eines, nämlich wie es beispielsweise eine Lichtlinie in einem Winkel von 45 Grad erkennt. Gruppen der Ich-kenne-eine-Linie-Neuronen entsenden dann ihrerseits ihre Fortsätze in die nächste Schicht.
Schön, erklärt alles – machen wir einfach immer weiter, Rindenschicht auf Rindenschicht der Merkmalserkennung, vom Punkt über Linie, Kurve, Kurvensammlung bis zur obersten Schicht, in der ein Neuron nur ein komplexes, spezielles Objekt erkennt, beispielsweise unsere Großmutter. Das Gleiche würde in der Hörrinde ablaufen: Neuronen der ersten Schicht kennen bestimmte Einzeltöne, die der zweiten Schicht Zweiergruppen von Tönen, und irgendein Neuron in der obersten Schicht erkennt den Klang, wenn unsere Großmutter bei Lawrence Welk mitsingt.
Wie sich aber herausgestellt hat, funktioniert es nicht ganz so. Tatsächlich gibt es in der Großhirnrinde ein paar »Großmutterneuronen« (ein Artikel in der Fachzeitschrift
Nature
berichtete 2005 allerdings über jemanden mit einem Jennifer-Aniston-Neuron). Auf Großmutterneuronen kann die Hirnrinde sich aber nicht allzu sehr verlassen, denn um einen solchen ineffizienten, übermäßig spezialisierten Mechanismus zu verwirklichen, wären unzählige Milliarden weitere Neuronen erforderlich. Außerdem würde eine Welt, die ausschließlich aus Großmutterneuronen besteht, multimodale Assoziationen ausschließen (beispielsweise wenn der Anblick eines bestimmten Gemäldes von Monet uns an Croissants, die Musik von Debussy und das katastrophale Rendezvous bei einer Impressionistenausstellung im Metropolitan Museum erinnert). Stattdessen sind wir in die Welt der neuronalen Netze eingetreten.
Damit sind wir bei meiner Auswahl: Emergenz und Komplexität, wie sie in der »Schwarmintelligenz« repräsentiert sind. Eine einzelne Ameise, die man beobachtet, scheint kaum etwas Sinnvolles zu tun – sie läuft in eine Richtung, schwenkt dann ohne erkennbaren Grund um, läuft rückwärts. Völlig unberechenbar. Das Gleiche geschieht mit zwei Ameisen oder mit einer Handvoll Ameisen. Eine ganze Ameisenkolonie dagegen erscheint ungeheuer sinnvoll. Spezialaufgaben, effiziente Methoden zur Nutzung neuer Nahrungsquellen, komplizierte unterirdische Nester mit einer auf wenige Grad genau geregelten Temperatur. Und das Entscheidende dabei: Es gibt weder einen Bauplan noch eine zentrale Kommandostelle – jede einzelne Ameise verfügt über Algorithmen für ihr Verhalten. Das ist aber nicht die Klugheit der Gruppe, in der eine Reihe einigermaßen gut informierter Einzelpersonen eine höhere Leistung erbringt als ein einzelner Experte. Die Ameisen besitzen keine vernünftigen Informationen über den großen Zusammenhang. Die Verhaltensalgorithmen jeder Ameise bestehen vielmehr aus wenigen einfachen Regeln für die Interaktion mit der unmittelbaren Umgebung und anderen Ameisen. Daraus erwächst eine höchst leistungsfähige Kolonie.
Ameisenkolonien können hervorragend Spuren legen und damit verschiedene Orte auf möglichst kurzen Wegen verbinden; zu diesem Zweck befolgen sie einfache Regeln, die ihnen sagen, wann sie eine Pheromonspur legen sollen und was zu tun ist, wenn sie der Spur einer anderen Ameise begegnen – eine Annäherung an die
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