Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie funktioniert die Welt?

Wie funktioniert die Welt?

Titel: Wie funktioniert die Welt? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Brockman , Herausgegeben von John Brockman
Vom Netzwerk:
als Hippocampus bezeichneten Gehirnareal konsolidiert. In beängstigenden Situationen jedoch – beispielsweise bei einem Autounfall oder einem Raubüberfall – legt ein anderer Gehirnbereich, die Amygdala, auf einer unabhängigen zweiten Gedächtnisspur ebenfalls Erinnerungen an. Solche Amygdala-Erinnerungen haben eine andere Qualität: Sie auszulöschen ist schwierig, und sie können nach Art eines »Blitzlichts« wiederkehren – ein Erlebnis, das Vergewaltigungsopfer und Kriegsveteranen häufig schildern. Mit anderen Worten: Es gibt mehrere Wege, auf denen Erinnerungen abgelegt werden. Dabei sprechen wir nicht von Erinnerungen an verschiedene Ereignisse, sondern von verschiedenen Erinnerungen an das gleiche Ereignis. Nach dem Bild, das sich derzeit abzeichnet, sind dabei sogar mehr als zwei Seiten beteiligt, die Informationen niederlegen und sich später darum streiten, wer die Geschichte erzählen darf. Die Einheitlichkeit des Gedächtnisses ist eine Illusion.
    Betrachten wir einmal die verschiedenen Systeme, die an Entscheidungen beteiligt sind: Manche davon arbeiten schnell und automatisch unter der Bewusstseinsoberfläche, andere sind langsam, kognitiv und bewusst. Es besteht aber kein Grund zu der Annahme, dass dies die beiden einzigen Systeme sind: Es könnte durchaus ein ganzes Spektrum von ihnen geben. Manche Netzwerke im Gehirn wirken an langfristigen Entscheidungen mit, andere an kurzfristigen Impulsen – und daneben dürfte es eine ganze Reihe mittelfristiger Voreingenommenheiten geben.
    Auch Aufmerksamkeit versteht man in jüngster Zeit als Produkt mehrerer konkurrierender Netzwerke, von denen manche für die geballte, gezielte Konzentration auf eine bestimmte Aufgabe zuständig sind, andere für die allgemeine Überwachung (Wachsamkeit). Beide sind immer im Wettbewerb verstrickt und steuern gemeinsam die Handlungen des Organismus. Selbst grundlegende Sinnesfunktionen wie die Bewegungswahrnehmung wurden nach heutiger Kenntnis in der Evolution viele Male erfunden. Damit bilden sie einen hervorragenden Nährboden für neuronale Demokratie.
    In einem größeren anatomischen Maßstab kann man auch die beiden Gehirnhälften – die linke und die rechte – als überlappende Systeme verstehen, die untereinander in Konkurrenz treten. Dies wissen wir von Patienten, bei denen die Gehirnhälften nicht verbunden sind: Sie leben im Wesentlichen mit zwei unabhängigen Gehirnen. Gibt man einem solchen Menschen in jede Hand einen Bleistift, kann er gleichzeitig Formen zeichnen, die sich nicht vertragen, beispielsweise einen Kreis und ein Dreieck. In den Bereichen von Sprache, abstraktem Denken, Erfinden von Geschichten, Schlüssen, Gedächtnis, Spielstrategien und so weiter arbeiten die Gehirnhälften unabhängig. Sie stellen ein Team von Konkurrenten dar: Agenten, die auf geringfügig unterschiedlichen Wegen die gleichen Ziele verfolgen.
    Nach meiner Vorstellung sollte diese elegante Lösung für die Rätsel des Gehirns neue Ziele für angehende Neurowissenschaftler setzen. Statt sich jahrelang für ihre Lieblingslösung einzusetzen, sollten sie die Aufgabe dahingehend weiterentwickeln, dass sie die verschiedenen überlappenden Lösungen aufklären: Wie treten diese in Konkurrenz, wie wird die Einigkeit bewahrt, und was geschieht, wenn die Dinge auseinanderbrechen?
    Elegante Lösungen zu entdecken ist unter anderem deshalb wichtig, weil man Kapital aus ihnen schlagen kann. Das Modell der neuronalen Demokratie eignet sich wahrscheinlich gut dazu, die künstliche Intelligenz zu verdrängen. Wir menschlichen Programmierer gehen angesichts eines Problems immer noch davon aus, dass es einen besten Weg zu seiner Lösung gibt oder dass es auf einem bestimmten Weg gelöst werden
sollte
. Die Evolution dagegen löst ein Problem nicht und hakt es dann auf einer Liste ab. Sie erfindet vielmehr unaufhörlich Programme, deren Ansätze sich alle überlappen und in Konkurrenz treten. Die Lektion lautet also: Man sollte die Frage »Welches ist der klügste Weg zur Lösung dieses Problems?« aufgeben und stattdessen fragen: »Gibt es mehrere, einander überlappende Probleme zur Lösung des Problems?« Dies wird zum Ausgangspunkt für die Entstehung eines fruchtbaren neuen Zeitalters der elegant uneleganten Rechenmaschinen.

Mahzarin Banaji
Unsere begrenzte Rationalität
    Richard Clarke Cabot Professor of Social Ethics, Department of Psychology, Harvard University
    Erklärungen, die sowohl analytisch als auch ästhetisch

Weitere Kostenlose Bücher