Wie funktioniert die Welt?
Wie könnte ein stark modular aufgebauter Geist jemals eine solche Leistung erbringen?
Darauf gibt es eine Antwort. Manche Module unseres Geistes sind
metarepräsentational
. Sie sind darauf spezialisiert, verschiedene Formen von Repräsentationen zu verarbeiten: mentale Repräsentationen für Module, die im Geist lesen; sprachliche Repräsentationen für Kommunikationsmodule; abstrakte Repräsentationen für Vernunftsmodule. Diese metarepräsentationalen Module sind stark spezialisiert. Immerhin sind Repräsentationen ganz besonderer Objekte, die man nur in Vorrichtungen zur Informationsverarbeitung findet, beispielsweise in Menschen und ihren Produkten. Repräsentationen haben eigene Eigenschaften, die man bei keinem anderen Objekt findet – sie sind wahr oder falsch, widerspruchsfrei und so weiter. Bedenkt man aber, dass die Repräsentationen, die von diesen metarepräsentationalen Modulen verarbeitet werden, selbst alles Mögliche zum Gegenstand haben können, bilden sie eine Art
virtuelle Domänen-Allgemeinheit
. So kommt es zu der Illusion, metarepräsentationales Denken sei wirklich allgemein und nicht spezialisiert.
Eratosthenes dachte nach meiner Überzeugung nicht konkret über den Umfang der Erde nach (jedenfalls nicht so, wie er vielleicht konkret über die Entfernung von der Bibliothek zum Palast in Alexandria nachdachte). Vielmehr grübelte er über die Herausforderung nach, die sich aufgrund der unterschiedlichen Schätzungen des Erdumfanges, die andere Gelehrte seiner Zeit geäußert hatten, stellte. Er überlegte, welche mathematischen Prinzipien und Hilfsmittel er auf das Thema anwenden konnte. Er dachte daran, wie er handfeste Beobachtungen und Berichte als Belege verwenden konnte. Sein Ziel war eine klare, zwingende Lösung, eine überzeugende Argumentation. Oder anders ausgedrückt: Er dachte über Objekte
eines einzigen Typs
– Repräsentationen – nach und suchte nach einem neuen Weg, um sie zu kombinieren. Dabei wurde er von anderen inspiriert und zielte auf andere. Sinnvoll erscheint seine intellektuelle Leistung nur als besonders bemerkenswertes Glied in einer gesellschaftlich-kulturellen Kette geistiger Vorgänge und Kommunikationsereignisse. Für mich ist das ein verblüffendes Beispiel nicht für das einsame Funktionieren des Einzelnen, sondern für die Fähigkeiten eines gesellschaftlich und kulturell erweiterten modularen Geistes.
Clay Shirky
Dan Sperbers Erklärung der Kultur
Sozialmedienforscher; Dozent, Interactive Telecommunications Program ( ITP ) der New York University Tisch School of the Arts; Autor von Cognitive Surplus: How Technology Makes Consumers into Collaborators
Warum verhalten Menschen in einer Gruppe sich alle gleich? Warum verhalten sie sich anders als andere Gruppen, die in der Nähe wohnen? Warum sind diese Verhaltensweisen über längere Zeit so stabil? Die naheliegende Antwort – Kulturen sind eine Anpassung an ihre Umwelt – lässt sich hier leider nicht aufrechterhalten. Viele benachbarte Kulturen entlang von Indus, Euphrat oder Oberrhein unterscheiden sich in Sprache, Kleidung und Sitten, obwohl sie nebeneinander in einer nahezu identischen Umwelt existieren.
Irgendetwas bewirkt, dass eine Menschengruppe sich auf bestimmte Weise verhält. Anfang der 1970 er Jahre stellten sowohl E.O. Wilson als auch Richard Dawkins fest, dass der Strom der Ideen in einer Kultur ähnlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt wie der Strom der Gene in einer Spezies: Die Strömung ist innerhalb der Gruppe stark, zwischen den Gruppen aber wesentlich schwächer. Dawkins postulierte daraufhin eine hypothetische kulturelle Einheit, die er als Mem bezeichnete, machte aber auch deutlich, welche Probleme dies aufwirft: Bei genetischem Material ist präzise Verdoppelung die Regel, und Mutationen sind selten. In der Kultur ist es genau umgekehrt; Ereignisse bleiben falsch im Gedächtnis und werden dann falsch beschrieben, Zitate werden durcheinandergeworfen, und selbst Witze (Meme in Reinkultur) werden jedes Mal anders erzählt. Der Vergleich von Genen und Memen blieb eine ganze Generation lang eine provokative Idee, die für Analysen nicht sonderlich nützlich war.
In meinen Augen hat Dan Sperber das Problem gelöst. In einem schmalen, 1996 erschienenen Bändchen mit dem bescheidenen Titel
Explaining Culture
skizzierte er eine Theorie, wonach Kultur das Überbleibsel der epidemischen Ausbreitung von Ideen ist. In seinem Modell gibt es kein Mem, keine kulturelle Einheit, die
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