Wie funktioniert die Welt?
selbst ist die Belohnung.
Die Theorie des modularen Geistes ist weder schön noch elegant. Aber da ich keine Dichterin bin, ist mir Wahrheit lieber als Schönheit.
Dan Sperber
Eratosthenes und der modulare Geist
Sozialwissenschaftler und Kognitionsforscher; Direktor, International Cognition and Culture Institute; Coautor (mit Deirdre Wilson) von Meaning and Relevance
Eratosthenes ( 276 – 195 v. Chr.), der Leiter der berühmten Bibliothek von Alexandria im ptolemäischen Ägypten, leistete bahnbrechende Beiträge zu Mathematik, Astronomie, Geographie und Geschichtsforschung. Außerdem wandte er sich dagegen, die Menschheit in Griechen und »Barbaren« einzuteilen. In Erinnerung geblieben ist er jedoch, weil er zum ersten Mal eine zutreffende Messung des Erdumfanges vornahm (eine Geschichte, die in dem kürzlich erschienenen Buch
Circumference
von Nicholas Nicastro sehr hübsch erzählt wird). Wie schaffte er das?
Eratosthenes hatte gehört, dass die Sonne in der Stadt Syene (dem heutigen Assuan) jedes Jahr an einem ganz bestimmten Tag zur Mittagszeit genau senkrecht auf den Boden eines offenen Brunnens fiel. Demnach stand die Sonne zu dieser Zeit im Zenit. Dazu musste Syene auf dem Wendekreis des Krebses liegen, und bei dem Tag musste es sich um die Sommersonnenwende (unseren 21 . Juni) handeln. Eratosthenes wusste, wie lange Karawanen für die Reise von Alexandria nach Syene brauchten, und schätzte die Entfernung zwischen den beiden Städten deshalb auf 5014 Stadien. Außerdem nahm er an, dass Syene genau südlich auf dem gleichen Längengrad liegt wie Alexandria. In diesem Punkt hatte er in Wirklichkeit nicht ganz recht – Syene liegt ein wenig östlich von Alexandria und auch nicht genau auf dem Wendekreis des Krebses. Aber zufällig hoben die Wirkungen dieser beiden Fehler sich gegenseitig auf. Er war überzeugt, dass die Sonne weit genug entfernt ist, um ihre Strahlen, die auf die Erde treffen, als parallel betrachten zu können. Wenn die Sonne in Syene im Zenit stand, musste sie in dem weiter nördlich gelegenen Alexandria südlich des Zenits stehen. Aber um wie viel? Er maß die Länge des Schattens, den ein Obelisk vor der Bibliothek warf (so jedenfalls die Geschichte – vielleicht wurde der Schatten auch von einem anderen, bequemeren senkrecht stehenden Gegenstand geworfen), und auch ohne die noch nicht entwickelte Trigonometrie konnte er daraus ableiten, dass die Sonne in einem Winkel von 7 , 2 Grad südlich des Zenits stand. Er begriff, dass dieser Winkel genau der Krümmung der Erde zwischen Alexandria und Syene entsprach (siehe Abbildung). Da 7 , 2 Grad ein Fünfzigstel von 360 Grad sind, brauchte Eratosthenes nur noch die Entfernung zwischen Alexandria und Syene mit 50 zu multiplizieren und gelangte so zum Erdumfang. Das Ergebnis, 252 000 Stadien, weicht nur um ein Prozent von der heutigen Messung von 40 008 Kilometern ab.
Eratosthenes kombinierte also verschiedene Beobachtungen, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten (die Geschwindigkeit der Karawanen, die Sonne, die auf den Boden eines Brunnens scheint, und die Länge des Schattens eines Obelisken), Annahmen (die Kugelform der Erde und ihren Abstand von der Sonne) sowie mathematische Hilfsmittel und ermittelte auf diese Weise einen Umfang, den er weder sehen noch unmittelbar messen, sondern sich nur vorstellen konnte. Sein Ergebnis ist einfach und überzeugend. Der Weg, auf dem er dahin gelangte, ist ein Musterbeispiel für menschliche Intelligenz.
Jerry Fodor (dessen Beitrag zur modernen Philosophie des Geistes kaum ihresgleichen hat) könnte anhand dieser intellektuellen Fähigkeit deutlich machen, wie die zentralen Systeme unseres Geistes funktionieren. Nach seiner Behauptung sind sie »isotrop«, das heißt, jede Überzeugung und jeder Beleg ist für die Beurteilung jeder neuen Hypothese von Bedeutung und »Quine’sch« (nach dem Philosophen Willard Van Orman Quine) in dem Sinn, dass alle unsere Überzeugungen Teile eines einzigen, integrierten Systems sind. Dies steht im Gegensatz zu der Vorstellung (zu deren Entwicklung ich beigetragen habe), dass der Geist ausschließlich aus spezialisierten »Modulen« besteht, die sich jeweils um eine ganz bestimmte kognitive Domäne oder Aufgabe kümmern, so dass unsere geistige Tätigkeit das Ergebnis der komplexen Wechselwirkungen (Komplementarität, Konkurrenz …) zwischen diesen Modulen ist. Aber beweist nicht die Geschichte von Eratosthenes, dass Fodor recht hat?
Weitere Kostenlose Bücher