Wie funktioniert die Welt?
Garnele interessiert, findet ihn an der Unterseite.
Das alles erscheint uns verkehrt – wir selbst gehören nämlich zu den Chordatieren, einem anderen großen Tierstamm. Bei Chordatieren läuft der wichtigste Nervenstrang den Rücken hinunter, Herz und Darm liegen vorn. Es ist, als wäre unser Körperbauplan spiegelbildlich zu dem der Gliederfüßer aufgebaut, und damit haben wir in kleiner Form eine allgemeine Aufteilung zwischen größeren Klassen kennengelernt. Gliederfüßer gehören zu den
Protostomiern
, deren Darm im Rücken liegt, während er bei den
Deuterostomiern
, unter denen auch wir Chordatiere sind, vorn verläuft.
Den Biologen ist dies schon vor langer Zeit aufgefallen: Der Naturforscher Etienne Geoffroy Saint-Hilaire drehte einen sezierten Hummer auf den Rücken und konnte zeigen, dass seine Innereien in dieser Position ähnlich angeordnet waren wie bei uns. Die Frage war nur, wie diese Verhältnisse entstehen – insbesondere nach dem Darwins Theorie der natürlichen Selektion allgemein anerkannt war. Wie gelangt man Schritt für Schritt von einem im Rücken gelegenen Darm und einem vorn positionierten Hauptnervenstrang zu der umgekehrten Konstruktion? Und vor allem: Warum bedeutet dies einen evolutionären Vorteil, was ja nach allgemeiner Ansicht der einzige Grund ist, warum es überhaupt geschieht?
Wenn man sich nicht gerade vorstellt, dass der Nervenstrang nach oben kletterte und den Darm eroberte, während sich weiter unten spontan ein neuer Darm entwickelte, weil er »gebraucht« wurde – ein Gedanke, mit dem ein abenteuerlustiger Denker tatsächlich eine Zeitlang spielte –, konnten die Biologen im besten Fall nur annehmen, dass die Baupläne von Gliederfüßern und Chordatieren unterschiedliche Wege waren, welche die Evolution von einem urtümlichen Tier aus eingeschlagen hatte; man glaubte, es sei nur eine Frage, wie der Würfel gefallen war.
Eine solche Erklärung war nicht nur langweilig, sondern aufgrund der molekularbiologischen Befunde wurde auch immer klarer, dass Gliederfüßer und Chordatiere in einer ganzen Reihe von Details auf dem gleichen Grundbauplan zurückgehen. Die kleinen Segmente der Garnelen werden von den gleichen Genen erzeugt, die auch unsere Wirbelsäule entstehen lassen, und so weiter. Womit wir wieder bei der alten Frage sind: Wie kommt man von einem Hummer zu einer Katze? Mittlerweile einigen die Biologen sich nach und nach auf eine Antwort, in der sich Eleganz mit einem Hauch des Rätselhaften verbindet, und auch ein Fünkchen Demut ist dabei.
Heute geht man zunehmend davon aus, dass irgendein urtümliches, wurmähnliches Wassertier, dessen Körperbauplan dem der Gliederfüßer ähnelte, verkehrtherum schwamm. Tiere können so etwas – heute tun es beispielsweise die Salzkrebschen. Häufig liegt es daran, dass ein Tier auf der Ober- und Unterseite unterschiedlich gefärbt ist, und wenn die Farbe des Rückens nach unten weist, ist es für natürliche Feinde schlechter zu sehen. Für ein solches Tier wäre es in der Evolution also von Vorteil gewesen, ständig verkehrt herum zu schwimmen. In einem solchen Tier lag das Rückenmark dann oben und der Darm unten. Für sich betrachtet, ist das vielleicht eine scharfsinnige und auch ein wenig traurige Geschichte, mehr aber nicht. Aber wenn wir nun annehmen, dass dieser kleine Wurm sich zu den heutigen Chordatieren weiterentwickelte? Dazu muss man die Phantasie nicht stark strapazieren: Die einfachsten Chordatiere, die Lanzettfischchen, sehen auch heute wie Würmer aus und ähneln nur entfernt einem Fisch. Würde man ein solches Tier aufschneiden, so würde man sehen, dass der Nervenstrang nicht im Bauch, sondern im Rücken liegt.
Mittlerweile zeigen molekularbiologischen Befunde ganz genau, wie ein Organismus während seiner Entwicklung die entsprechenden Signale erhält und sich dann nach dem Bauplan eines Krebses oder einer Katze entwickelt. Es scheint sogar ein Bindeglied zu geben: Die Eichelwürmer, ekelhafte, stinkende Bewohner des Meeresbodens, haben Nervenstränge auf Rück- und Vorderseite, und ihr Darm ist offenbar gerade auf dem Weg nach unten.
Dass wir Menschen ein Rückgrat haben, liegt also nicht daran, dass es aus irgendeinem Grund besser wäre, wenn die Wirbelsäule einen Sturz nach hinten abfängt oder etwas Ähnliches. Würde man die Würfel noch einmal werfen, wären wir vielleicht Zweibeiner, deren Wirbelsäule sich auf unserer Vorderseite von oben nach unten zieht wie ein
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