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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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1000.Von dieser Sorte Fahrzeug gab es viele, die Autos fielen nicht weiter auf im DDR-Straßenverkehr, und schon deshalb wurden sie auch für Häftlingstransporte benutzt. Diese speziellen Barkas hatten allerdings eine Innenausstattung,
die nicht den üblichen ab Werk gelieferten Modellen entsprach – sie waren umgebaut worden zu rollenden Zellen.
    Es stiegen Uniformierte aus, prüften die Umgebung und zerrten dann den Delinquenten aus dem Auto. Über die Pflastersteine, zwischen denen damals noch kein Gras wuchs, gingen sie, den Gefangenen links und rechts im Griff, die wenigen Schritte von der Straße bis zum Tor, das bei ihrer Ankunft geräuschlos geöffnet worden war. Die kleine Gruppe wurde schon erwartet.
    Jeder Transport musste einige Tage zuvor angekündigt werden, damit dem Genossen Direktor vor Ort genügend Zeit blieb, innerhalb und außerhalb der Anstalten für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen. So stand es wörtlich in den umfangreichen Vorschriften, die für Hinrichtungen im ganzen DDR-Staat galten: »Die Vollzugsabteilung der Hauptabteilung übersendet der Strafvollzugsanstalt, in der die Todesstrafe vollzogen wird, eine beglaubigte Abschrift der Urteilsformel und... bestimmt den Termin für den Vollzug der Todesstrafe.«
    Die Todesboten von Leipzig lieferten ihre Opfer erst ab, wenn es draußen dunkel war. Im Winter kamen sie am frühen Nachmittag, im Sommer am späteren Abend. Selbst solche Details waren vorgeschrieben. Es sollte alles vermieden werden, was Aufsehen erregte. Zum Beispiel, dass zufällige Passanten oder Anwohner, die aus den Fenstern gegenüber blickten, eine ihnen merkwürdig erscheinende Szene hätten beobachten und daraus Schlüsse ziehen können.
    Nach jeder klandestinen Ankunft wurde der Eingang wieder sorgfältig verrammelt. Währenddessen warteten Delinquent und Bewacher in einer fensterlosen, matt beleuchteten Schleuse vor einem weiteren Tor. Auch das ging nach innen auf. Wieder ein paar Schritte. Wieder Warten. Jetzt standen sie in einem Vorhof zwischen dem geschlossenen Tor hinter und einem verschlossenen Tor vor ihnen, bis rechts eine unscheinbare Tür aufging. Dahinter wohnte bis 1960 der Hausmeister der Haftanstalt. Der Gefangene wurde in eins der Zimmer gebracht, das zur Zelle umgebaut worden war. Man nahm ihm die Handschellen ab, notierte
seine Wünsche für die ihm zustehende letzte Mahlzeit, deren Gesamtwert aber zehn Mark nicht übersteigen durfte. »Das kann sein a) eine besondere Speise b) ein besonderes Getränk, z.B. Schwarzbier, Bohnenkaffee, Tee u.ä. c) Rauchwaren.« Der Henker, inzwischen eingetroffen, saß solange in einem anderen Raum, bis er dann gerufen wurde.
    Das alles ist lange her, und auch der Henker ist längst tot, und doch will ich auf meiner neudeutschen Reise hier Station machen, weil auch diese Vergangenheit zur Gegenwart gehört. Denn in der ehemaligen DDR ist bei näherer Betrachtung nichts schon lange her und nichts schon längst tot. Und manches, das als erledigt, begraben, abgehakt galt, erweist sich plötzlich wieder als lebendig. Es sind keine letzten Zuckungen. Die tot geglaubte Krake Stasi zum Beispiel bewegt sich wieder. Sie kann keinen mehr verschlingen, denn inzwischen sind nicht nur die Gedanken frei. Man muss nicht mehr vor ihr zittern, denn sie hat keine Macht mehr. Man kann ihr zwischen die Augen oder auch aufs Haupt hauen. Die Stasi ist tatsächlich tot. Doch ihre grauschmierigen Tentakel, die Saugnäpfe, in ihrer menschlicher Metamorphose als Greifer heute wie damals erkennbar an der exakt gebügelten Hosenfalte und dem militärisch korrekten Kurzhaarschnitt, reißen ihr Maul weit auf, als hätten sie wieder was zu sagen. Das stinkt vielen. In Wahrheit ist es nur der Atem verbrauchter alter Männer, und der riecht nun mal so.
    Erst knapp zwanzig Jahre sind vergangen, seit im anderen deutschen Herbst die Mauer fiel, und noch keine dreißig, seit zum letzten Mal in der DDR ein Mensch hingerichtet wurde. Überall gibt es noch Überbleibsel der einstigen Diktatur. Manche sind so bedrückend wie die hier in Leipzig an der Stätte des Todes. Manche dagegen wirken spießig harmlos wie zum Beispiel die »Vernehmerzimmer« der Stasi im Gefängnis des einstigen Sperrbezirks Berlin-Hohenschönhausen, der im Stadtplan von Ostberlin nicht verzeichnet war, obwohl alle in der Umgebung wussten, was und wer sich hinter den blechernen Toren und den Wachtürmen verbarg.
    Doch genau da, in Räumen mit hässlichen, grob durchwirkten

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