Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Hannah-Arendt-Instituts, erstellt im Auftrag der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, geht davon aus, dass zwischen drei und fünf Prozent der Mediziner heimlich einen Nebenberuf ausgeübt hatten und dass viele von denen auch im geeinten
Deutschland noch praktizierten.Aber dafür, dass Krankenanstalten »methodisch als systemerhaltendes und zur Verfolgung von Menschen dienendes Instrument« eingesetzt worden sind und nicht nur in Einzelfällen diese Methode der Zersetzung angewendet wurde, gibt es keine stichhaltigen Belege. Anders als in Rumänien oder in der Sowjetunion gab es keinen staatlich gelenkten Missbrauch, wie Sonja Süß, einst Sprecherin von Demokratie Jetzt in Leipzig, heute Psychiaterin in einer Westberliner Klinik, nach der Auswertung Hunderter von MfS-Akten herausfand.
Tatsächlich aber gab es Missbrauch in vielen Einzelfällen. Das stellten alle Kommissionen fest, die in den neuen Bundesländern nach Verbindungen zwischen Psychiatrie und Stasi suchten. Die sächsische zum Beispiel in ihrem Abschlussbericht: »In 61 der untersuchten 89 Einzelfälle konnte die Kommission weder Missbrauch der Psychiatrie noch Rechtsverletzungen feststellen«, jedoch einen Missbrauch in »schlimmster Form«, bei dem ein »nicht psychisch Kranker auf Betreiben des MfS eingewiesen wurde, damit sein hohes Sachvermögen ungestört beschlagnahmt werden konnte«, wobei ein als IM tätiger Arzt »in der Maske des weißen Mantels« mitwirkte.
Ich stoße auf einen Brief, den der DDR-Generalstaatsanwalt am 13. April 1989 an die Bezirksstaatsanwältin von Leipzig geschrieben und sie keine drei Wochen vor dem 1. Mai »aus gegebenem Anlass« auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht hatte, dass bei »Verhafteten, von denen potenzielle Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehen, verstärkt die Möglichkeit der stationären forensisch-psychiatrischen Begutachtung in den Dienststellen des Organs Strafvollzug« genutzt werden könne unter tätiger Mithilfe »der in der Anlage angeführten Sachverständigen«. Und belegbar ist in der Tat, dass vor bestimmten Feiertagen, auch während der Leipziger Messe, Missliebige »vorübergehend verwahrt« wurden.
In einem besonderen Fall soll ein IMS, ein Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung eines Bereichs, bei einer Patientin Informationen darüber beschaffen, welche führenden Köpfe sich hinter
einer »Goethe-Gesellschaft oder einem Seume-Club« verbergen. Der 1810 verstorbene Schriftsteller Johann Gottfried Seume, berühmt geworden durch seinen »Spaziergang nach Syrakus«, war am Ende seines Lebens Korrektor in einem kleinen Ort bei Grimma. Er ist unsterblich geworden durch sein Gedicht:
»Wo man singet, laß dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.«
Wovon im kollektiven Gedächtnis aller Deutschen Ost wie West hängen blieb: »Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.«
Kurztrip in die ehemalige Psychiatrische Anstalt von Zschadraß, ein paar Kilometer entfernt von Grimma. Dass in der nach Pisse stinkenden Unterführung ausschließlich Nazis-Raus-Graffiti zu lesen sind, mindert mein Gefühl der Verlorenheit. Der Bahnhof ist verwittert, das Schild, das die Station Tanndorf anzeigt, kaum lesbar.Tanndorf liegt nur 48 Minuten von Leipzig entfernt und doch am Ende der Welt. Das Erste, was mir die Taxifahrerin erzählt, Wochen zuvor für die Ankunft eines Fremden bestellt, ist ihre persönliche Erfahrung im Job bei einem Wessi, der sie mit herrischen Drohungen zwang, trotz eines gebrochenen Fußes ihrer Arbeit bis Dienstschluss nachzugehen, der auch nicht daran dachte, ihr während der anschließenden Gipspause das magere Gehalt weiterzubezahlen. Dass sie darauf ein Anrecht gehabt hätte, wusste sie damals noch nicht. Hatte ihr keiner gesagt, ihr Chef erst recht nicht. Mittlerweile kann sie, aus Erfahrung klug, achtzehn Jahre nach der deutschen Verschwesterung und Verbrüderung, unterscheiden zwischen solchen und anderen Wessis, und als wir ankommen in Zschadraß, da weiß ich, dass es auch unter den ihr nahen Ostlern schlimme Finger gibt. Wir sind uns am Ende der Fahrt deshalb einig, dass die Welt verändert werden muss.
Von Zschadraß aus, einem Dorf zwischen Grimma und Waldheim, der Stadt, die in Verbindung mit den stalinistischen Terrortribunalen der 1950er-Jahre genannt wird, den Waldheimer Prozessen, berüchtigt
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