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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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falls sie im entsprechenden Alter sind, geben sie an, dabeigewesen zu sein. Die anderen erinnern sich an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der Tschechoslowakei, an den kurzen Prager Frühling und daran, wie er von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde. Simpel ausgedrückt: Sag mir, woran du dich erinnerst, und ich sage dir, woher du kommst. »Es gibt eine richtige Trennlinie zwischen Ost und West«, bestätigt das der Schriftsteller und Philosoph Christoph Hein, und der ist ein Ostdeutscher und weiß schließlich mehr als ich.
    Dass sich westdeutsche Studenten damals für die eigentlichen Vertreter des Weltgeistes hielten, der mit der Macht des Wortes und wortmächtigen Parolen gegen die Herrschenden auf den Straßen, in den Universitäten, in den Schulen einen Sturm entfachte, ist vierzig Jahre danach zwar Geschichte und oft genug erzählt. Aber im Jubiläumsjahr 2008 erschienen Dutzende von Erinnerungsbüchern, manche peinlich wie das von Rainer Langhans, dem spätpubertären Esoteriker der Nacht, manche provokant wie
das von Götz Aly, der in den 68er-Rebellen vor allem Wiedergänger nazistischer Jugendbanden aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu erkennen glaubt. Hein nennt diese Argumentation absurd, weil ja in Folge der Ereignisse von 1968 »in der Bundesrepublik eine gründliche Auseinandersetzung mit der Nazizeit einsetzte«, die für die Gesellschaft eine befreiende Wirkung gehabt habe.
    Eine sogenannte 68er-Generation, die den Muff von tausend Jahren hinwegfegte, den braunen Mief ihrer nie wirklich entmachteten Naziväter, ihnen bohrende Fragen nach ihrer Vergangenheit stellte, die gab es in der DDR nicht. Die Diktatur erlaubte keinen Widerspruch, das System duldete keine Aufklärung außer der staatlich verordneten, und die beschränkte sich auf die Taten der anderen, nicht auf die eigenen. 1968 ist für Ostdeutsche deshalb nicht das Symbol für Ausbruch und Aufbruch wie im Westen, ist nicht die Chiffre für eine weltweite Jugendbewegung von Hippies und Rebellen, die sich das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben diesseits der gültigen gesellschaftlichen Normen ertrotzte – durch Protest, durch Musik, durch Mode, durch Sex unter dem Motto »Make love not war«, durch Fantasie -, sondern Symbol einer gescheiterten Freiheitsbewegung, für den im Blut erstickten Prager Frühling.
    Auch in den Familien Ost gab es wie in denen West keine Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Väter. Hein: »Weil die Staatsführer im Widerstand waren, schien eine öffentliche Aufarbeitungsdebatte wie im Westen überflüssig.« Da fand sie nach der Initialzündung durch die »Spiegel«-Affäre dann unter gewaltigen und gewalttätigen Begleiterscheinungen statt, es gab Straßenschlachten und brennende Autos, es gab Verletzte, und es gab Tote. Das war in Berlin nicht anders als in Paris, wo im Mai 1968 sogar Barrikaden errichtet wurden, wo sich Arbeiter mit den Studenten solidarisierten und de Gaulles Staat zu kollabieren drohte und ein heute angesehener wortgewandter Abgeordneter des Europaparlaments, Daniel Cohn-Bendit von den Grünen, als der aufmüpfige Dany le Rouge, der Rote Dany, zum Helden der schließlich
gescheiterten Revolte wurde. In der DDR hatte man nach 1945 im Gegensatz zur Bundesrepublik die Verwaltung, die Beamtenschaft tatsächlich entnazifiziert, nazifrei gemacht und die alten Eliten gegen die eigenen ausgetauscht. In der Planwirtschaft gab es nach der Verstaatlichung keine Nazis mehr, ganz zu schweigen von den Universitäten. In der Bundesrepublik also 60 Millionen Eichmänner, in der DDR 16 Millionen Thälmänner.
    Die Neonazis Ost hatten nach dem Umbruch deshalb leichteres Spiel als die im aufgeklärten Westen. Sie mussten in den neuen Bundesländern nur die Vergangenheit, die seit der Befreiung eingemottet und noch nicht mal begraben gewesen war, in ihrem Sinne aufleben lassen. Es fehlten mehr als fünfzig Jahre, in denen innerhalb der Familien nie darüber gesprochen wurde, was Opa im Dritten Reich tatsächlich gemacht hatte, denn der staatlich verordnete Antifaschismus endete an der Haustür. Die Aufarbeitung der zweiten Schuldgesellschaft zwischen 1949 und 1989, nicht vom Westen anklagend in Aufarbeitung eigener Versäumnisse betrieben, hätte in ostdeutscher Eigenregie vollzogen werden müssen, und dies hat nicht stattgefunden. »Uns fehlt euer westliches Erlebnis 1968«, meint Hans-Joachim Maaz, »die Auseinandersetzung der Kinder mit der Generation, von der die

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