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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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DDR getragen wurde. Das aber brauchen wir. Eine zweite Befreiungsrevolte.«
    Er rät dem Volk deshalb das, was er seinen Patienten bei deren eigenen Problemen von Verdrängung individuell empfiehlt, und das lautet pauschal dann so: Befreit euch innerlich, befreit euch von den Lehrern und Eltern und Funktionären, denn erst dann gibt es Freiraum, in dem sich wirklich frei leben lässt. Das solle aber aus innerem Antrieb kommen und dürfe nicht von außen verordnet sein: »Wir selbst müssen das schaffen, wir ganz allein.« Doch eigentlich hat er resigniert, sieht keine Bereitschaft mehr vorhanden für diese emanzipatorische Therapie. Joachim Gauck dagegen bleibt optimistisch, glaubt daran, dass sich der Prozess’68 nur verzögert habe, aber noch komme.
    Richard Schröder hatte noch nie Sympathie für die westdeutschen
68er, »was ich nicht als Defizit empfinde«. Er ist sich da mit der Mehrheit der Westdeutschen, aber auch mit der Mehrheit der DDR-Bevölkerung des Jahres 1968 einig. Die Ostdeutschen verfolgten verstört die Bilder von den studentischen Demonstrationen in der Bundesrepublik und waren im Innersten froh, dass so etwas in ihrem Staat nicht stattfand und natürlich auch nicht stattfinden durfte. Die zotteligen Typen in ihren vergammelten Jeans und Parkas sahen gemeingefährlich anders aus als die Jugendlichen, die sie aus ihrer Umgebung kannten – ganz abgesehen davon, dass die nicht in ihr politisches Weltbild passten. Die wirkten auf sie undeutsch frech und vorlaut. Ihren obersten Spie ßern im Politbüro erging es ebenso. Deren klammheimliche Begeisterung, wenn drüben wieder die Polizei zuschlug, woraufhin man die repressiven Imperialisten anprangern konnte, wurde anfangs in den gleichgeschalteten Medien auf Seite eins ausgedrückt. Die Altkader glaubten da noch an ihren eigenen Weltgeist und hofften, beim Klassenfeind finde nunmehr endlich die von Marx und Engels vorhergesagte Revolution statt.
    Als sie merkten, dass dies keine Bewegung nach ihren theoretischen Vorstellungen war, dass die Arbeiter, das stets umworbene Proletariat, nicht bereit waren, ihre angeblichen Fesseln abzuwerfen und sich den demonstrierenden Studenten anzuschließen, dass Westberliner Bauarbeiter im Gegenteil den Polizisten schlagkräftige Hilfe gegen diese ungewaschenen Langhaarigen anboten, als sie feststellten, wie sich das Virus vom Stamm Freiheit, getarnt als Rockmusik und Sex, bei ihnen zu verbreiten begann, als sie Ansteckung befürchten mussten mit allen unvorhersehbaren Folgen für ihr System, wurden für die Presse sowie für Rundfunk und Fernsehen die entsprechenden ideologischen Schwenks verordnet.
    In einem Interview mit dem »Süddeutsche Zeitung Magazin« erinnerte sich Angela Merkel an den Sommer 1968 – sie war damals vierzehn Jahre alt -, die fröhliche Aufbruchstimmung in der Tschechoslowakei und daran, wie begeistert ihre Eltern nach einem Zwei-Tage-Besuch an der Moldau waren: »Die kamen
sehr belebt aus Prag zurück mit der Hoffnung, dass man die Dinge innerhalb des Sozialismus offenbar doch aufbrechen kann. Das war ja zum Teil in den kirchlichen Kreisen der DDR diskutiert worden: nicht die Kopie Westdeutschlands, sondern der eigene Weg. Und das, was in der Tschechoslowakei passierte, hätte man sich eben auch für die DDR gewünscht.«
    Dass die Entwicklung eine »weltumspannende Aufbruchbewegung« war, habe sie erst später verstanden. Die einen wollten den Sozialismus aufbrechen und menschlicher gestalten, aber hatten keine Abneigung gegen die soziale Marktwirtschaft, »und die anderen kamen aus der Marktwirtschaft und haben den Sozialismus verherrlicht. Eigentlich waren die Bewegungen gegenläufig, und trotzdem waren sie in manchem gleich.« Der Schriftsteller Rolf Schneider, damals sechsunddreißig, stellte in einem Rückblick lapidar fest: »Für uns war 1968 Prag und nicht Rudi Dutschke.« Der vor dem Mauerbau nach Westberlin übergesiedelte Dutschke war in der DDR geboren und aufgewachsen, was seinen bundesdeutschen Gegnern wiederum Anlass bot, ihm dringend eine schleunige Rückkehr in die Heimat zu empfehlen. Die dort hätten ihn aber bestimmt nicht wieder aufgenommen, weil er ihnen ebenso suspekt war. Das Attentat auf Dutschke, Ostern 1968 in Westberlin, Auslöser für heftige Straßenschlachten, ist dennoch im Osten groß vermeldet worden, weil man den Schreibtischtätern in den sogenannten Hetzblättern des DDR-Lieblingsfeindes Axel Springer eine Mitschuld an den Schüssen geben

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