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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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sich später wortmächtig der besonderen Kulturbeobachter angenommen: »Jener junge Lyriker, der mich einst aufsuchte, um mit mir über Gedichte zu palavern, ein Abgesandter von Major Tischendorf, in Wirklichkeit ein IM Imans, der stolz meldete, ich hätte mich fünf Stunden mit ihm unterhalten. Lektoren meiner DDR-Verlage haben über mich Auskunft gegeben, über meine Pläne, mein Befinden, meine politischen Ansichten, meine Frau. Auch Zunftgenossen haben mich fleißig ausgehorcht... Wie nicht anders zu erwarten, hat auch der Expräsident des Exschriftstellerverbandes der Ex-DDR in einem Gespräch mit einem MfS-Offizier manches über mich anzumerken gehabt, wobei ihm die Fantasie, die seinen Büchern fehlt, in die Quere kam, da er zu Protokoll gibt: Kunerts, beide, hätten tagelang geweint, weil sie die DDR verlassen würden... Ach ja, immer zu Späßen aufgelegt, der Hermann Kant.«
    Wie Kunert betont Loest seine Verachtung für die Denunzianten immer wieder und vor allem dann, wenn er das Gefühl hat, dass Balsam aus finsterer Zeit benutzt wird, um heute die Sünden von damals zu verkleistern oder die Sünder reinzuwaschen von ihrer Schuld. Sein dadaistisch wahnwitziger Kollege Adolf Endler, unangepasst in beiden deutschen Systemen, weil er die Faschisten
so hasste wie die verlogenen Antifaschisten, der 1979 zusammen mit unter anderen Jurek Becker, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Kurt Bartsch und eben Erich Loest wegen eines Protestbriefes an den Genossen Erich Honecker aus dem DDR-Schriftsteller verband ausgeschlossen wurde, hat beim »Weltnest« gar nicht erst mitgemacht, da es nur die »offizielle Literaturgeschichte« kolportiere, wie sie vom Ministerium für Kultur »zurechtmanipuliert wurde«. Das Buch hätte auch der ehemalige stellvertretende DDR-Kulturminister Klaus Höpcke »zu seinem Ruhm« herausgeben können, sagte er der »Zeit«. Und überhaupt, gab Endler in seinem Buch »Nebbich«, einer Collage aus Tagebuchnotizen und realsozialistischen letzten Wortmeldungen der sterbenskranken DDR, zu Protokoll, hält er die im Grunde für eine Gaunergesellschaft, in der es ein riesiges Netzwerk von Bestechung und Schwarzhandel gegeben habe.
    Würde ich Volker Külow, den Chef der Linksfraktion im Leipziger Stadtrat und für seine Partei auch im Landtag aktiv, in diesem Sinne einen Gauner nennen, müsste ich mit juristischen Konsequenzen rechnen. Also lasse ich es. SED-Mitglied Külow war nicht nur für die DDR-Auslandsspionage tätig, sondern hat als IM unter den Decknamen Bernau und Ostap beispielsweise auch Studenten der Leipziger Universität verpfiffen, die im Januar 1989 auf Flugblättern die Regierenden daran erinnerten, dass die Sozialistin Rosa Luxemburg, eine Ikone der Herrschenden, stets die Freiheit der Andersdenkenden gefordert habe. Eine heute in Leipzig praktizierende Chirurgin gehörte als Studentin zu denen, die er der Staatssicherheit meldete. Dass er sich zwar öffentlich entschuldigte, als ihn seine Vergangenheit einholte, weil er aus heutiger Sicht wohl doch in einigen Fällen »vom menschlichen Anstand gebotene Grenzen« überschritten habe, aber einen Rücktritt von seinen Funktionen ablehnte, wundert sie nicht. Solche Charaktere wie Külow, der besser Würstchen verkaufen sollte, statt sich als Abgeordneter ein angenehmes Leben zu machen, habe es nun mal in jedem System gegeben.
    Dass ich hier nun ausgerechnet ihn erwähne, obwohl es Tausende
seiner Art gibt, mag daran liegen, dass Külow als Beruf »freier Journalist« angibt, was jeden freien Journalisten schmerzt. Außerdem sitzt er im Ausschuss für Wissenschaft, Hochschule, Kultur, Medien des Sächsischen Landtags, und die dortige Linksfraktion kann trotz Kenntnis seines Werdegangs als Stasi-Agent auf seine Fähigkeiten als kulturpolitischer Sprecher erst recht nicht verzichten. Sich dem Zeitgeist geschmeidig anpassende Typen gibt es im Westen auch, und sie sind keine angenehmeren Zeitgenossen als ihre gefallenen Brüder und Schwestern im Osten. Erich Loest hält sowieso die Diskussionen darüber, was Ostund Westdeutsche im Wesen und Wesentlichen voneinander unterscheidet, für eine deutsche »Kaffeekränzchendebatte«, also für unwesentlich im geeinten Land.
    Einen wesentlichen Unterschied weiß ich aber. Einer ist mir immer wieder aufgefallen. Beim Erwähnen einer bestimmten Jahreszahl scheiden sich dann doch die Geister. Die Chiffre 1968 trennt Ost und West. Die einen erinnern sich an die westdeutschen Studentenproteste, und

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