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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Risse mit hohen Gefängnisstrafen und einer strengen Zensur.
    Als sich 1968 seine kleinere Schwester in Prag in den demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz verliebte, einen feurigen Filou von erotischer Anziehungskraft und unwiderstehlichem Charisma, sorgte der große Bruder aus Moskau, der gerade in Polen über Nacht wieder für Ordnung hatte sorgen lassen, diesmal selbst für Ruhe in der Familie. Mit Gewehren und Panzern.
Die zum kurzen Glück Verführten wurden bestraft, der Verführer Freiheit erstickt. Die Reaktion der UdSSR auf den an der Moldau erwachten, begeistert begrüßten Frühling ist vergleichbar mit der Reaktion eines türkischen Machobruders, der seine Schwester beim Flirt mit einem Ungläubigen ertappt, sie entweder einsperrt oder zurück in die Heimat schafft, was in etwa den tschechoslowakischen Gefängnissen entspricht, oder totschlägt, um die angeblich verletzte Ehre der Familie wieder herzustellen.
    Das Familienmitglied DDR hatte von Anfang an voller Misstrauen die Politik des neuen kommunistischen Parteichefs Alexander DubcČek verfolgt – und in ihren Medien verfolgen lassen -, der auf Reformen setzte statt auf Repressionen, auf sozialistische Marktwirtschaft und auf Meinungsfreiheit. Viele DDR-Bürger erlebten den politischen Frühling hautnah im Urlaub, kehrten verliebt-beschwingt zurück und erzählten zu Hause davon. Ulbricht und Co., gewarnt durch die Ereignisse in Polen, erkannten die Gefahr und drängten Moskau, dem Spuk möglichst schnell ein Ende zu bereiten.
    Beim Einmarsch der Kampfgenossen vom Warschauer Parkt am 21. August 1968 hätten sie liebend gern auch aktiv mitgemacht, doch die Oberste Heeresleitung in Moskau ließ ihre deutschen Verbündeten nicht von der Kette. Die Erinnerung an die Okkupation durch die andere deutsche Armee schien den Sowjetführern dann doch noch zu frisch. Sie hatten recht. Auf den Sowjetpanzern, die bald alles niederwalzten, was sich ihnen entgegenstellte, tauchten immer wieder blutverschmierte Hakenkreuze auf. Ulbricht war zwar beleidigt, aber er tat alles, um sein Volk auch in dieser Situation zu täuschen, indem er Berichte von NVA-Soldaten veröffentlichen ließ, die klangen, als seien die tapferen deutschen Jungs tief im Feindesland bei den kommunistischen Nachbarn.
    Sie standen aber hilfreich bereit an der Grenze, wo die Volkspolizisten alle jugendlichen Reisenden in den aus Prag kommenden Zügen ausgiebig filzten. Wer protestierte, wurde verprügelt, sein mitgebrachtes Material konfisziert – Schallplatten,
Zeitungen, Flugblätter -, dann den üblichen Arrestzellen zugeführt. Während im Westen bei Demonstrationen rote Fahnen als Symbole einer angeblichen Freiheit flatterten, wurde die Freiheit jenseits der Grenzen vernichtet. Es wehten keine roten Fahnen, es floss Blut. Für jedes der berühmten 2000 Worte hatte die UdSSR einen Panzer bereit, lästerten die tschechoslowakischen Intellektuellen, die aus dem Land flohen – so wortmächtig seien sie immerhin gewesen. Das Manifest, mit dem sie den großen Bruder in Moskau herausgefordert hatten, drohte den versteinerten Ostblock zu sprengen. Deshalb entschärften die Truppen, insgesamt 240 000 Mann, darunter 26 000 Polen, und nicht 2000, sondern 4200 Panzer des Warschauer Paktes, den Sprengsatz, verhafteten oder vertrieben alle, die ihn gelegt hatten, und schlugen die tot, die sich gegen sie wehrten. Danach herrschte auch hier wieder, wie in Polen, die Totenruhe.
    Und in der DDR? Es war Sommer, es war heiß, und die Mehrheit ging baden. Als die ersten Parolen auftauchten, an Hauswände geschmiert, auf denen zur Solidarität mit den tapferen Nachbarn aufgerufen wurde, als Flugblätter in Hausbriefkästen geworfen und von braven Untertanen bei den Hauswarten abgegeben wurden, als die Spitzel berichteten, dass insbesondere unter den Söhnen und Töchtern privilegierter SED-Kader DubcČek gepriesen und die Haltung der eigenen Regierung kritisch hinterfragt wurde, antworteten die Funktionäre auf die ihnen gemäße Art – mit Gewalt.
    »Die DDR fördert und schützt die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft dient«, heißt es in Artikel 18, Absatz 1 der DDR-Verfassung, doch entwickeln sollte die sich nicht etwa in freier Rede, sondern im kollektiven Miteinander, am besten bei der Erfüllung nach Normen riechender Parolen wie jener der Schlosser in der Neptun-Werft Rostock – »Wir wollen in diesem Jahr

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