Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
konnte.
Die Inbrunst, mit der bei den Studenten im Westen »das ›Kapital‹ von Marx studiert oder die Maobibel geschwenkt wurde«, habe er nie nachvollziehen können, ergänzt Schröder, denn sowohl Marx als auch Mao gehörten zu denen, die sie ja hatten loswerden wollen. Zum ersten Mal seit 1953 war durch das aufkeimende Lächeln im bisher so starren Antlitz des Sozialismus auch in ihrem Land eine gewisse Hoffnung auf Tauwetter erwacht. »1968 war vor allem das Jahr, in dem Panzer den Prager Frühling niederwalzten«, doch sieht er heute zwei positive Aspekte bei den westlichen 68ern, die danach ihren langen Marsch durch die Institutionen begannen, der
zumindest für einen von ihnen, den ehemaligen Frankfurter »Putz truppen«-Anführer Joschka Fischer, in einem der höchsten Staats ämter enden sollte: »Empfindsamkeit gegen jede Form von Gewalt und die Bereitschaft, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wir haben uns das alles bis 1989 mühsam erarbeiten müssen. Entscheidend ist eine persönliche Vergangenheitsbewältigung, keine in öffentlichen Debatten mit Schuldzuweisungen geführte; die auch, aber die ist nicht entscheidend heute.«
Was 1968 in Prag geschah, in einem kommunistischen Bruderstaat, war zwar keine Revolution, aber ein Aufstand der Worte, einer durch Worte. Es waren Schriftsteller und Intellektuelle, die dann, ermutigt von den systemverändernden Beschlüssen ihrer politischen Führung, in einem Manifest der 2000 Worte den Frühling besangen. Mit der Bewegung der anderen 68er in den Demokratien des Westens sind die 68er von Prag nicht vergleichbar. Die waren mutiger. Im Westen gehörte kein Mut dazu, die garantierten Grundrechte eines Bürgers mit Leben zu erfüllen – seine Meinung frei zu äußern, zu demonstrieren, die Staatsmacht zu kritisieren, den Bombenkrieg der Amerikaner in Vietnam zu verdammen und dabei sogar einen nicht lupenreinen Demokraten wie Ho Chi Minh, den Staatschef der Nordvietnamesen, als Freiheitshelden hochleben zu lassen. Dass die demokratisch gewählten Regierenden, verstört über ihre aufmüpfigen Kinder, auf deren Köpfe eindreschen ließen, um sie wieder auf den rechten Weg zu prügeln, ließen ihnen eine freie Presse und die Opposition – erst recht die außerparlamentarische – nicht durchgehen. Das war nicht der Beginn einer kommenden Diktatur, sondern letztes Aufbäumen einer überholten Ordnung.
Anders im Ostblock. Der zeigte Risse. Die waren nicht etwa verursacht durch den so stürmisch erwachten jugendlichen Weltgeist, der über alle Grenzen hinweg gefährlich zu wehen begann, die brachen innerhalb des Blocks aus und gefährdeten die Stabilität. Vor den Klassenfeinden, ihren natürlichen Gegnern, hatten die Regierenden weniger Angst als vor den Ketzern und Abweichlern im eigenen Land. Was typisch ist für die autoritären
Herrschaftssysteme des Ostens. Die selbst gezeugten Kinder waren bedrohlicher, denn die nahmen die menschheitsbeglückenden Theorien von Lenin, Engels, Marx ernst und setzten gegen den existierenden Sozialismus die sozialistische Utopie von einer besseren Welt.
In Warschau bröckelte es zuerst im Nationaltheater. In allen Diktaturen waren Theater oft die einzig verbliebene Nische der Freiheit, weil es sich da im Dunkeln nicht nur gut munkeln ließ, was die Dunkelmänner wussten, sondern auch bei Gelegenheit im Schutz der Dunkelheit jubeln und klatschen. In der Nazidiktatur wurde 1938 bei einer Berliner Aufführung des Schiller’schen »Don Carlos« nach dem berühmten Satz des Marquis Posa, »Geben Sie Gedankenfreiheit«, minutenlang applaudiert, in Warschau, Januar 1968, war es die Stelle, an der ein Schauspieler laut klagte: »Seit einem Jahrhundert schickt man aus Moskau nur die schlimmsten Strolche nach Polen.« Tosender Szenenapplaus bei der Premiere, was die Schauspieler verblüffte, bis sie begriffen, dass der frenetische Beifall nicht ihnen galt, sondern den von ihnen deklamierten Worten des polnischen Dichters Adam Mickiewicz, dessen »Totenfeier« aus dem 19. Jahrhundert, eine Verherrlichung des Freiheitskampfes, aufgeführt wurde.
Sobald die Strolche begriffen, dass sie gemeint waren, wurde die »Totenfeier« vom Spielplan abgesetzt. Studenten protestierten gegen diese geistige Bevormundung, doch bald ging es ihnen nicht mehr nur um Gedankenfreiheit, sondern um Freiheit an sich. Wissenschaftler und Schriftsteller solidarisierten sich mit ihnen, Polizei und Geheimagenten schlugen sie zusammen und kitteten die
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