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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Universität Teufen in der Schweiz aufmerksam. Ich habe mich zum Fernstudium eingeschrieben. Dieses absolvierte ich von 2002 bis 2005 und schloss es mit einer Diplomarbeit ab, die ich selbstverständlich eigenständig erarbeitet habe.« Was aber nichts daran änderte, dass dieses Diplom nicht anerkannt wird in Deutschland.
    Seine Wähler jedoch nahmen ihm das nicht übel. Denen ging es nicht um irgendein ökonomisches Diplom, sondern nur darum, wer sich um ihre ökonomischen Probleme kümmerte. Das tat er, lobte die Freiheit, wie es sich in der Demokratie ziemt, vergaß aber nie, wie mühsam der Umgang mit dieser lange so fremden Geliebten war und wie schwer es für seine Landsleute war, sich mit ihr zu paaren. Er besann sich auf seine Stärke, die Bodenständigkeit. Bei der Wahl 2006 brach die gesamte CDU zwar ein. Er jedoch widerstand dem Trend der Stadt.
    Mit den Linken muss er im Biotop Ost, wo im Gemüt der Menschen die DDR nistet, auf kommunaler Ebene in Sachfragen zusammenarbeiten, »ganz unabhängig von deren Parteiprogramm oder dem unsrigen«. Realpolitik ist bei den Politikern im Osten Alltag. Die Einheit wird vor Ort von Pragmatikern verschiedener Parteien gemanagt, so gut sie es eben können und die Umstände es ihnen erlauben.Wer arbeitslos ist, will einen Job und
keine linke oder weniger linke Utopie, denn von beiden kann er die Miete und die Heizung nicht bezahlen. Und ein Volksvertreter, der das vergisst, kann die nächste Wahl vergessen, ganz egal, für welche Partei er antritt.Weil die Wirklichkeit andere Antworten erfordert als die, die in den jeweiligen Parteiprogrammen gegeben werden, trifft man sich deshalb auf unterer Ebene ohne die üblichen Berührungsängste der Großen.
    Auch das hat Mario Czaja früh gelernt, damals kaum neunzehn Jahre alt: »Wenn ich ältere CDU-Leute fragte, ob man nicht zu diesem oder jenem Jugendverein in unserem Bezirk hingehen sollte, um für eine politische Zusammenarbeit zu werben, sagten die, brauchst du gar nicht hinzugehen, sind alles Kommunisten. Im kommunalen Ausschuss des Bezirks waren die aber alle, wie ich merkte, gut befreundet und duzten sich so wie einst. Draußen galt die PDS als der politische Gegner, aber in der Wirklichkeit vor Ort herrschte eine kommunale Kumpanei.«
    Was notwendig ist, wie er zugibt, um still Sachpolitik zu machen für die Menschen, statt laut Schlachten zu schlagen vor laufenden Kameras: »Die Linken sind nun mal die stärkste politische Kraft bei uns, und ohne die geht gar nichts.« Von seiner Partei schaffte es bei der letzten Wahl nur er wieder in der politischen Diaspora Ost. Er hängte die PDS mit über zehn Prozent Vorsprung ab und gilt seitdem als Hoffnungsträger, was sich auch ausdrückte in dem ihm übertragenen Amt eines Parlamentarischen Geschäftsführers: »Wir sind im Berliner Parlament ja in der Opposition gegen die rot-rote Regierung und haben nur noch 35 Leute in der Fraktion. Ich bin der einzige CDU-Mann aus einem Gebiet mit 260 000 Einwohnern.«
    Auch sein jüngerer Bruder Sebastian machte sich auf den langen Marsch in die Politik. Er wirbt für eine andere Minderheit, die FDP. 3,9 Prozent Zweitstimmen holte er für die im PDS-Biotop Hellersdorf-Marzahn, was aber dennoch reichte für einen Sitz im Stadtparlament. Er muss noch viel kleinere Brötchen backen als der Ältere und sucht sich die erst recht nur vor Ort. Stolz vermeldet er auf seiner Homepage, dass er und die FDP mit dem
Thema »Kein Wasserski im Naturschutzgebiet« »offensichtlich den Nerv der Einwohner getroffen« hätten, denn täglich würden sie zwischen zwei und vier Anträge von Einwohnern erhalten, die sie bei ihrer Forderung unterstützen. Logisch irgendwie. Wasserski als Sport ist bei den Hartz-IV-Empfängern Ost nicht so verbreitet.
    Da draußen in Marzahn-Hellersdorf, am östlichsten Rand von Berlin, fühlte ich mich bei jedem Abstecher wie ein Fremder. Ich sprach zwar die Sprache der Einheimischen – nun ja, nicht ganz, aber ich verstand sie, und sie verstanden mich. Nach ein paar Stunden wurde ich regelmäßig unruhig. Wollte zurück in den mir leuchtenden Westen, nach Berlin Mitte zumindest. Was zugegeben eine ziemlich provinzielle Sehnsucht war. Aber da dort, wo man es eigentlich gar nicht mehr vermutet, die besten Geschichten auszugraben sind von Menschen, die sich aufmachten aus den ihnen hinterlassenen Ruinen und den Staub der früheren Ruinenbaumeister abschüttelten, blieb ich länger vor Ort in Berlin Ost statt in Berlin

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