Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
für die CDU antrat, für die er bisher in der Jungen Union und im Kreisverband und im Bezirkstag Politik betrieben hatte, waren die deutschen Blütenträume jedoch längst verwelkt. Er musste sich was Einfacheres einfallen lassen. Einfacher im Sinne von »Näher, mein Volk, zu dir«.
Und das lernte er von der PDS. Denn die war im Osten schon nah beimVolk, hatte es nie verlassen, sich in den Volksseelen eingenistet und das angeboten, was mehr und mehr vermisst wurde, Mief und Wärme und Geborgenheit und auch Trost. Sie hatte den Wahlbürgern versprochen, sich wie einst Vater Staat – diesmal garantiert ohne Mutter Stasi – um ihre Sorgen zu kümmern, hauptsächlich um die ihnen einst fremde Angst vor Arbeitslosigkeit, ihnen hilfreich viele Behördengänge und Entscheidungen abzunehmen.Aus Dankbarkeit wählten sie PDS oder wählen heute Die Linke.
Mario Czajas Lebensverlauf und nicht das Programm der CDU ist sein höchster Trumpf. Er ist dort aufgewachsen, wo er um Stimmen wirbt. Man sieht ihm zwar nicht mehr an, ob er aus dem Westen stammt oder aus dem Osten. Er isst lieber Spaghetti Carbonara und Tiramisù als Soljanka und Broiler, kleidet sich modisch statt bieder, benutzt wie ein Manager den Speicher seines Blackberry und nicht wie ein Funktionär gespeicherte Parolen. Sollte man ihn im Ausland fragen, woher er komme, würde seine Antwort ganz selbstverständlich lauten: aus Deutschland.
Er kann aber Geschichten erzählen und Geschichte verstehen, wie sie nur Ossis erlebt haben, und das kommt bei den ostdeutschen Wählern an. Ähnliches haben sie irgendwie alle durchgemacht, haben unter gleichen Verhältnissen gelebt, und vor allem in gleich kleinen: Mario Czajas Vater als Elektriker, die Mutter als Krankenschwester. Die Familie wohnte im Haus der Oma. Man kannte alle Nachbarn.
Biografisches: Als die Mauer fiel, war Mario fünfzehn Jahre alt, hielt sich als katholischer Messdiener am Glauben fest und blieb den Organisationen und Verpflichtungen des Systems für Jugendliche seines Alters fern. Er machte weder bei der Jugendweihe noch bei den Jungen Pionieren mit. »Weil ich aus einem katholischen Elternhaus stamme, hatte ich vor,Theologie zu studieren. Theologie zu studieren war ja eine der wenigen erlaubten Nischen in der DDR.«
Nachdem das ganze Gebäude DDR zusammengebrochen war, brauchte er keine Nische mehr und studierte atemlos die aufregende Gegenwart. Zunächst die Schaufensterwelt des Westens. Am Samstag nach der glückseligen Nacht der Deutschen, das war dann der 11. November 1989, gingen er und seine Eltern und seine Geschwister über die Sonnenallee nach Westberlin, dort auf den Kurfürstendamm und drückten sich staunend die Nasen platt vor dem überwältigenden Angebot der Geschäfte. Kein prägendes, aber ein unvergessliches Erlebnis. »Samstags mussten wir bei uns ja eigentlich zur Schule gehen, aber da ging an diesem Samstag keiner hin. Am Montag kamen wir alle mit Entschuldigungen unserer Eltern, für über Nacht eingetretene Anfälle von Fieber und Grippe und Halsweh.« Was aber die Lehrkräfte nicht sonderlich interessiert haben dürfte, denn auch die hatten Schwäche gezeigt. Die wenigsten waren an jenem Sonnabend zum Dienst erschienen.
Mario wechselte bald darauf die Schule, wollte statt Russisch eine Sprache lernen, mit der sich was anfangen ließe in der neuen Zeit. »Die Ostlehrer waren anfangs noch strenger als früher, waren eingeschüchtert, hatten Angst um ihre Existenz, sodass sie glaubten, sich nur mit verstärktem Leistungsdruck für weitere Verwendung empfehlen zu können. Für Englisch- und Französischunterricht kamen Lehrer aus dem Westen. Eine Lehrerin hatte einen Doppelnamen, das vergesse ich nie, so was gab es bei uns im Osten ja nicht, Doppelnamen!« Nach der Mittleren Reife begann Mario eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann, schloss sich der Jungen Union an, machte in der Mutterpartei schnell
Karriere – denn wer im Osten wollte ausgerechnet bei der CDU aktiv sein? – und zog 1999 ein ins Parlament.
Im Wahlkreis Kaulsdorf-Mahlsdorf waren damals genau 32 517 Bürger wahlberechtigt, von denen gingen 71 Prozent zur Wahl, und von denen wiederum holte sich Czaja 37,4 Prozent. Wenige Tage vor dem Wahltag war der Straßenerschließungsplan begraben worden, und die Wähler dankten dafür mit ihrem Kreuz dem jungen Mann von nebenan. Möglicherweise hat bei ihrer Entscheidung auch der Stolz darauf mitgespielt, dass es einer von ihnen gewesen war, ein Ossi, der es
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