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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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durchkämpfen. Endlich sitzt er auf seinem Stuhl. Neben ihm Monsignore Karl-Heinz Ducke von der katholischen Kirche und Pastor Martin Lange von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, die wie er gleichfalls als Moderatoren vorgesehen sind. Zunächst will Ziegler für Ordnung sorgen und denen Platz verschaffen, die von ihren Organisationen, Parteien, Initiativen an den Runden Tisch delegiert wurden.
    Aber die Frauen, die draußen Krach gemacht haben, sind auch schon da und denken nicht daran, ihre Stühle zu räumen. Ebenso stur gebärden sich nicht zu Tisch gebetene Vertreter sogenannter Massenorganisationen, von denen aber alle wissen, dass sie noch nie eine eigene Meinung äußerten, sondern stets nur treue Vasallen der SED und der Blockparteien waren.Turbulenzen,Anschuldigungen, Geschrei. Der Saal, in dem sonst gebetet wird, gleicht einem Tollhaus. Zwei Männer ergreifen Partei für die Frauen. Ihre Biografien könnten unterschiedlicher nicht sein: Ibrahim Böhme von der SDP und Wolfgang Ullmann von Demokratie Jetzt, der Mann von der Stasi, was natürlich jetzt noch keiner ahnt, und der aufrechte Kirchenhistoriker und Bürgerrechtler.
    Schließlich resigniert Pastor Ziegler. Er ruft die Vertreter der verschiedenen Parteien und Gruppen auf und bittet sie, Platz zu nehmen.Auf der einen Seite die von der SED und der Nationalen Front, auf der anderen Seite die vom Neuen Forum, dem Demokratischen Aufbruch, von Demokratie Jetzt und der Grünen Partei, von der SDP, der Initiative Frieden und Menschenrechte und der Vereinigten Linken. Die Frauen ignoriert er einfach, aber das
ist denen egal. Sie sitzen am Tisch, und mitreden werden sie auch. Wie sich schon bei der ersten Sitzung zeigen wird, und erst recht bei den folgenden Treffen, zweimal noch im Betsaal, danach in den Räumen der Residenz Schloss Niederschönhausen, gibt es aber einen, dem alle zuhören, wenn er das Wort ergreift, Wolfgang Ullmann von Demokratie Jetzt. Bis zur letzten Sitzung am 12. März 1990, der dann sechzehnten, ist er eine »zentrale Persönlichkeit am Runden Tisch«, wie es der Politikwissenschaftler Uwe Thaysen, der von Anfang bis Ende in der zweiten Reihe als Beobachter und Zuhörer dabei war, bewundernd notierte.
    Eine der beiden Frauen, für die sich Ullmann eingesetzt hatte, schwärmt noch heute von ihm, dem 2004 zu früh verstorbenen Helden des Runden Tisches. Die überzeugte Atheistin Tatjana Böhm hat »den Humanisten und Theologen nicht nur geschätzt, ich habe ihn verehrt«. Sie neigt nicht zur Heldenverehrung. Dass sie nicht nur Krach schlagen, sondern Wesentliches beisteuern konnte für die diskutierten Inhalte, hat sie in den Wochen zwischen Dezember 1989 und März 1990 bewiesen. Sie ist eine von mehreren Autorinnen der am Ende verabschiedeten Sozialcharta mit den Schwerpunkten Recht auf Arbeit, Vollbeschäftigung, Gleichberechtigung der Frauen und soziale Sicherheit.
    »Woher nahmen Sie eigentlich den Mut«, frage ich sie, »einfach da reinzustürmen und sich einzumischen?« Denn Übungen in Widerspruch gehörten ja nicht gerade zum Lehrplan an den Schulen der DDR. Tatjana Böhm trinkt einen Schluck Kaffee und spricht dann mit rauer Raucherstimme von ihrer persönlichen Befreiung, die vor der eigentlichen politischen stattfand. Ihre hat lange vor dem Ende der DDR begonnen in »Gesprächskreisen feministischer Wissenschaftlerinnen« an der Akademie in Berlin, angestoßen von den Erfahrungen, dass »trotz bester Noten der Frauen in allen Prüfungen immer Männer die besseren Themen und Aufgaben« bekamen, was der Soziologin stank. Da sie Mitglied der SED war, konnte man ihr keine der üblichen Verdächtigungen anhängen und sie kaltstellen, weshalb ihr Selbstbewusstsein ungestört wachsen durfte.
    Im November 1989 ist sie aus der Partei ausgetreten und hat mit anderen Frauen den Unabhängigen Frauenverband gegründet, den sie ab 7. Dezember am Runden Tisch vertrat. »Wir waren ein bisschen spät dran mit der Gründung, zugegeben, aber wir wussten, ohne Frauen ist nun mal kein Staat zu machen.« Manchmal rutscht einer von denen noch ein Idiom der Vergangenheit über die Lippen, aber das geht nicht nur ihr so. Als eine Delegierte den Antrag einbringt, dass Kinder unter vierzehn Jahren mit Zustimmung ihrer Eltern eigene Vereinigungen gründen dürfen, was den anderen nicht eines der hundert drängendsten Probleme dieser Zeit zu sein scheint, verzeichnet das Protokoll: »Ich denke jetzt direkt an Pionierorganisationen zum

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