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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Artikel 23 zu unterwerfen.Wer auf einen solchen Weg der Einheit Deutschlands strebt, verletzt das Selbstwertgefühl und damit die Würde dieses Volkes.« Doch das angesprochene Ostvolk sah dies nicht als Unterwerfung an, fühlte sich weder im Selbstwertgefühl noch in seiner Würde verletzt, und deshalb blieb es, als die Stunde schlug, beim Beitritt nach Artikel 23.
    Nach einem Intermezzo beim Deutschen Gewerkschaftsbund, nach dem »zweiten politischen Urerlebnis«, als sie in noch holprigem Englisch in den USA Vorträge hielt über das Wesen linker Frauenpolitik, ist Tatjana Böhm in der praktischen Politik gelandet, arbeitet seit 1992 als Referatsleiterin im brandenburgischen Sozialministerium und ist dort unter anderem zuständig für Frauenhäuser und Zwangsehe bei Migrantinnen. Ihren obersten Vorgesetzten kennt sie seit den Tagen am Runden Tisch. »Damals war Matthias Platzeck von den Grünen der Unpolitischste von uns allen.« Heute ist der SPD-Mann Ministerpräsident von Brandenburg.
    Der Runde Tisch war nie rund, er war eckig. Nur bei der ersten Sitzung saßen sich je fünfzehn aus beiden Lagern gegenüber, wobei auf der einen Seite die frechen Feministinnen nicht mitgerechnet wurden im Protokoll. Schon beim nächsten Treffen eine
Woche später waren es je neunzehn von den alten und den neuen Kräften. Die Frauen waren jetzt offiziell zugelassen, dafür durften dann auf der anderen Seite zwei Gewerkschafter vom FDGB Platz nehmen, und als zwei weitere »Neue« sich die Teilnahme erstritten, die von der Grünen Liga, holten sich die »Alten« ihrerseits im Gegenzug zwei an den Tisch,Vertreter der »Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe«, kurz VdgB.
    Dass auch von den neunzehn Vertretern der neuen Kräfte manche mit ihrer Vergangenheit bald so alt aussehen sollten wie fast alle von den alten, wusste noch niemand. Je nach Besetzung gehörten mal sechzehn, mal vierzehn, mal nur zehn zum Staatssicherheitsdienst, die Teilnehmer der siebzehn Arbeitsausschüsse sind dabei nicht mitgezählt. Die meisten der neuen Kräfte, die Wortführer und Antreiber der Revolution, die für ihre Überzeugungen Prügel hatten einstecken müssen, standen als Opfer in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie waren »operativ bearbeitet«, also rund um die Uhr abgehört und überwacht worden.
    Die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, die für Demokratie Jetzt am Runden Tisch saß, hat die Stasi-Akten über sich und ihren damaligen Mann Gerd, der die Interessen der Initiative für Frieden und Menschenrechte vertrat, erst spät gelesen und erfahren, wer sie und ihn bespitzelt hat. »Das waren viele, viele Bände«, erzählte sie mir und fügte hinzu, sie sei zwar nicht dafür, dass die Täter alle noch »verurteilt werden«, aber dass sie sich der Justiz stellen müssten, ja, das wolle sie schon. Das sei man ganz einfach den Opfern schuldig. Zu denen sie zählte. Die Mitbegründerin des Netzwerks »Frauen für den Frieden«, was den Machthabern höchst verdächtig vorkam, obwohl ja angeblich per DDR-Gesetz alle verpflichtet waren,Tag und Nacht für den Frieden zu kämpfen, wurde zusammen mit Bärbel Bohley bereits 1983 wegen des »Verdachts auf landesverräterische Nachrichtenübermittlung« verhaftet und sechs Wochen lang eingesperrt.
    Aufgefallen war sie der Stasi schon zuvor, weil sie so unverschämt war, einen unabhängigen Kinderladen in Ostberlin zu gründen. Das grenzte bereits an Landesverrat. Die staatlich gelenkten
Kindergärten der DDR waren für die SED-Funktionäre eine natürliche Keimzelle für die Umsetzung ihrer Ideologie. Es ging ihnen nicht darum, in jedem Kind die individuellen Fähigkeiten zu fördern, sondern ihm die frühe Anpassung ans Kollektiv einzutrichtern. Linientreue Erzieherinnen bestimmten, wann geschlafen wurde, wann gespielt wurde, wann gegessen wurde, wann gemeinsam auf Topfbänken sitzend gekackt wurde – und wann die kleinsten Genossen so fürchterliche Lieder singen mussten wie jenes:
    »Mein großer Bruder Rüdiger/Der geht zur Volksarmee/Er schützt den Kindergarten/in den ich morgens geh/Noch ist die Mütze mir zu groß/Die Jacke viel zu schwer/Bin ich erst groß, dann werd ich/Soldat sein so wie er.«
    Wie viele Ehemalige vom Runden Tisch hat auch Ulrike Poppe nie vergessen, was das Einmalige war in den Sitzungen, egal, wie leidenschaftlich die Diskussionen um Tagesordnungspunkte geführt wurden und wie hart Meinungen aufeinanderprallten. »Es gab eine Art von Gemeinschaftsgefühl,

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