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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Beispiel, Entschuldigung, Kinderorganisationen...«
    Tatjana Böhm erinnert sich voll diebischer Freude an den Mann, der neben ihr saß und der ausgerechnet die Arbeitsgruppe Justiz und Strafrecht leitete, Wolfgang Schnur. Dass der Star des Demokratischen Aufbruchs fester Mitarbeiter der Staatssicherheit war, wusste sie natürlich nicht. Sein Doppelleben flog erst vor den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 auf, was im Stimmenergebnis den totalen Absturz des Demokratischen Aufbruchs zur Folge hatte. Tatjana Böhm mochte aber, das hat sie nicht vergessen, von Anfang an seine Art nicht. Welche Art? »Er war mir körperlich unsympathisch.« Andere Männer vom Runden Tisch, die sie mochte und die ihr politisch nahestanden, taten ihr dagegen leid. Die Helden von gestern sahen für sie schon wie die Verlierer von morgen aus, bevor überhaupt gewählt wurde. »Als ich mir meine bärtigen Ossi-Mitstreiter anschaute, ahnte ich, die werden vom normalen Volk niemals gewählt. Die sahen nach Unruhe aus, und Unruhe hatten die Menschen nach den wilden Zeiten der Revolution genug erfahren. Das reichte denen für den Rest ihres Lebens.«
    Für sie dagegen hätte es aufregend weitergehen können. Die Diskussionen am Runden Tisch waren politisch die »spannendste Zeit meines Lebens«, denn später als Ministerin ohne Geschäftsbereich im Kabinett der Nationalen Verantwortung – »immerhin betrug mein Gehalt 2200 Mark, und das war im Vergleich zu
den 800, die ich vorher verdiente, ein Quantensprung« – hatte sie noch was zu sagen, aber nichts zu entscheiden. Sie blieb in jeder Beziehung auffällig bei ihren wenigen Auftritten in der Volkskammer. Zeigte lange rote Fingernägel, trug einen engen Rock und hochhackige Schuhe, wirkte auf die meist grauen Herren im Plenarsaal deshalb verstörend jung und frech, ist heute noch stolz, schon rein optisch das Gegenmodell präsentiert zu haben zum gültigen DDR-Frauenbild. »Wir Feministinnen aus dem Osten haben für unsere Frauen in kurzer Zeit mehr erreicht als die im Westen nach ihrem jahrelangen Kampf«, behauptet sie und schließt sogar die Vermutung an, dass es ganz allgemein besser bestellt sein würde um die Einheit, wenn die Westler »von uns einiges übernommen hätten, statt alles abzulehnen«. Das sehe auch Gregor Gysi so, sage ich ihr. »Wo er recht hat, hat er recht«, antwortet Tatjana Böhm.
    Nicht nur darin stimmen sie überein. Beide halten es für einen Geburtsfehler der Einheit, dass die DDR der Bundesrepublik »beigetreten« wurde, statt zuvor in einer Nationalversammlung mit Abgeordneten aus beiden Staaten eine neue gemeinsame Verfassung zu beschließen. In Artikel 23 des westdeutschen Grundgesetzes von 1949 heißt es: »Dieses Gesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.« Gysi und Böhm sowie mit ihnen über alle Parteigrenzen hinweg die meisten vom Runden Tisch kämpften vehement für eine Alternative, die in Paragraf 126 so formuliert ist: »Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«
    Es gab zwar eine Arbeitsgruppe, die sich ausschließlich mit den notwendigen Inhalten einer künftigen gemeinsamen neuen Verfassung beschäftigte, dreißig Sachverständige befragte, einzelne Paragrafen aufschrieb, bis alle am Tisch überzeugt waren, einen
Entwurf fertig zu haben, den man Volkskammer und Bundestag zur Prüfung und dann einer Nationalversammlung zur Abstimmung vorlegen könnte. Die Realität überholte sie. Der Erwartungsdruck der DDR-Bürger, die schnell vereinigt werden wollten um jeden Preis, war stärker.
    Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass es die meisten Ostdeutschen nicht interessierte, ob sie eine neue Verfassung erhalten würden oder ob es genüge, der alten beizutreten. Andere Ziele hatten Vorrang – die materiellen Vorteile, die der Westen im Angebot hatte. Sie wollten baldmöglichst in der Verfassung sein, sich die leisten zu können, wollten statt ihrer weichen eine harte Währung bekommen. Der Runde Tisch trat zwar tapfer den Bestrebungen entgegen, »sich durch die Abgabe von Beitrittserklärungen einer anderen Verfassungsordnung, dem Grundgesetz der BRD, nach

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