Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
euch nicht, haben sie das hingenommen.«
Zwar war seit Wochen der angeblich antifaschistische Schutzwall keine undurchlässige Mauer mehr, zwar war die Führungsspitze der SED entweder im Ruhestand oder auf der Flucht, zwar ließ der Druck von unten auf die oben nicht nach. Aber es gab Informationen über mögliche Putschpläne der Nationalen Volksarmee, es gab Berichte über Waffenlager der Betriebskampfgruppen und Gerüchte über die gefüllten Waffenkammern der Stasi. Vor allem das Depot der Staatssicherheit war gut gefüllt. So bewaffnet hätten die jederzeit einen eigenen Krieg gegen ihre Bürger führen können. Es herrschte deshalb entsetztes Schweigen am Runden Tisch, als ein Vertreter der Regierung Modrow konkrete Zahlen vorlegte. Zur »Ausrüstung der Kräfte« waren im MfS gelagert: 124 593 Pistolen und Revolver, 76 592 Maschinenpistolen,
3611 Gewehre, 449 leichte Maschinengewehre, 766 schwere Maschinengewehre, 3537 Panzerbüchsen, 103 Abschussgeräte für spezielle Munition, 48 Polizeiflinten sowie 3303 Leuchtpistolen.
Berghofer saß auch an jenem Tag zu Tisch, als plötzlich die »Neonazi-Gefahr« zum bedrohlichen Thema wurde. Das sowjetische Ehrenmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges in Berlin-Treptow war mit nationalistischen Parolen wie »Volksgemeinschaft statt Klassenkampf« oder »Nie wieder Diktatur des Proletariats / Die Zukunft gehört den Völkern, nicht den Mächtigen /Vorwärts im nationalen Befreiungskampf, Besatzer raus« usw. beschmiert worden, woraufhin schon am Tag darauf, kaum waren die Schmierereien entdeckt, die SED-PDS, das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer und die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft zu einer »Kampfdemonstration« und einer »Einheitsfront gegen rechts« aufriefen. Berghofer: »Ich habe sofort gefragt: Sind das wirklich Neonazis, oder sind das Stasi-Leute, die einen Anlass schaffen wollen, um loszuschlagen?« Er ist heute mehr denn je davon überzeugt, dass es »eine Provokation der eigenen Truppen aus der Normannenstraße« gewesen ist, wo sich das Hauptquartier der Staatssicherheit befand. Nach der Melodie, die ihm sehr vertraut vorkam: Seht ihr, liebe DDR-Bürger, wenn »ihr uns nicht habt, erhebt der Faschismus sein Haupt«. Zur Demonstration kamen immerhin 250 000 Menschen.
Die Gerüchte über Nazis im Untergrund, die auf den richtigen Moment zum Losschlagen warteten, waren gezielt von der Stasi gestreut worden und passten in deren Weltbild. In der offiziellen Geschichtsschreibung war die DDR von Antifaschisten bevölkert, während Faschisten ausschließlich im Westen lebten. In Wirklichkeit hatte das Ministerium für Staatssicherheit »systematisch und wissentlich«, so der Historiker Henry Leide in einer Untersuchung über die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, viele NS-Verbrecher einschließlich mancher Massenmörder als Informanten und Agenten eingesetzt, auch im Westen. Es lebten dort, wie man weiß, viele alte Nazis unter falschem Namen, zu viele sogar unter ihrem eigenen, zu viele zu lange unbehelligt.
Ihre gleichgesinnten Nachgeborenen hatten sich in der Tat gesammelt bei NPD und Republikanern, aber es gab die völkische Brut eben nicht nur dort. Die SED schoss sich jedoch auf die von drüben ein:Weil der antifaschistische Schutzwall gefallen war, seien die dreckigen Rechten eingesickert, um den sauberen Osten aufzumischen. Das habe man nun von der Konterrevolution.
Spätestens ab 1991/92, als in Hoyerswerda ein Plattenbau brannte, in dem Vietnamesen wohnten, spätestens dann, als eine johlende Menge mit dem Hitlergruß ihre Begeisterung ausdrückte über ihre Nachbarn, die Brandstifter, spätestens dann, als die Feuerwehr von ganz normalen Bürgern beim Löschen behindert wurde, spätestens dann war klar, dass die im Osten keine Neonazis aus dem Westen brauchten, weil sie genügend selbst gezüchtete hatten. Inzwischen haben sie sich in den neuen Bundesländern ausgebreitet. Es sind längst nicht mehr nur dumpfbackige Schläger, es sind die gekämmten Nazis, die bürgerlichen, von denen die größere Gefahr für die Zivilgesellschaft ausgeht. Erardo Christoforo Rautenberg, Generalstaatsanwalt von Brandenburg, der es von Amts wegen genauer weiß, hat mir auf einer Station meiner Deutschlandreise vom braunen Netzwerk Ost berichtet, in dem allerdings Funktionäre aus dem Westen die Strippen ziehen.
Für die Bürgerrechtler war im Dezember so kurz nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur die Gefahr
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