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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Deutschen West, und das erzeuge bei vielen eine Traurigkeit, eine Verlorenheit, die aber nichts zu tun habe mit dem Wunsch, die DDR wiederzubekommen. Um Gottes willen, nein. Es ist eine Distanz zur Realität, mit der sie irgendwie nichts anfangen können. So betrachten sie die Freiheit als eine Bedrohung.
    Aber die ist ihnen doch jahrzehntelang von der Stasi vorenthalten worden, und falls sie sich doch mal die Freiheit nahmen, wurden sie eingesperrt. Warum wollen dennoch so viele DDR-Bürger quer durch alle Parteien, nicht nur die einschlägig Interessierten
von der ehemaligen SED-PDS, dass endlich Schluss sein soll mit offenen Akten?
    Gauck neigt nicht dazu, den Sündern ihre Sünden zu verzeihen. »Christ zu sein bedeutet ja nicht, Schuld kommentarlos zu vergeben.« Er ist nach wie vor fest überzeugt, dass die Aufarbeitung der Stasi-Vergehen nicht nur nötig ist, sondern, falls nötig, auch noch immer wehtun muss. Erinnerung sei nun mal ein therapeutischer Prozess, nur so könne man was lernen.
    »Aber können Menschen überhaupt aus der Geschichte lernen?«, fragt er mich. Die Frage ist rhetorisch gemeint, eine Antwort gibt er selbst: »Wissen hilft, und Lernen nützt. Man sollte von zwei Vergangenheiten lernen, von beiden Diktaturen wissen, an beide Verbrechen erinnern.« Im Westen, meint er, aber er sagt: bei euch, weil ich jetzt für ihn der typische Westler bin, mit dem man in Berlin Mitte zwar einen Espresso trinkt, dem man aber eigentlich reinen Wein einschenken muss, damit er begreift, was hinkt an meinem anfänglichen Was-wäre-wenn-Vergleich: »Bei euch haben die Menschen nach 1945, analog zu den Umfragen bei uns jetzt über die DDR, den Nationalsozialismus für eine an sich gute Sache gehalten, die schlecht gemanagt wurde. Aber dann kam das Wirtschaftswunder, und bald hatte jeder, auch der letzte Vertriebene, eine eigene Erfolgsgeschichte vorzuweisen. Das hat die Menschen motiviert. Bei uns hat ein Drittel keine Erfolgsgeschichte. Das demotiviert.Viele bei euch drüben meinten doch nach dem Krieg, es sei nicht alles schlecht gewesen, der Führer habe die Autobahnen gebaut, und es gab Vollbeschäftigung und keine Kriminalität. Nach zwölf Jahren Diktatur! Die DDR gab es vierzig Jahre!«
    Die Ausrufezeichen, die er dabei setzt, hängen förmlich zwischen uns in der rauchgeschwängerten Luft. Die Erinnerung ist nun mal nicht rein vernunftgesteuert. Gaucks inzwischen verstorbener Vater, der die Kommunisten verabscheute, hat Anfang der neunziger Jahre plötzlich begonnen, über die positiven Seiten des SED-Staates zu reden – Arbeitsplätze, Gemeinschaft, Sicherheit. Und das war genährt von Enttäuschung über die nicht erfüllte
Hoffnung, dass nach dem Umbruch automatisch alles besser wird so wie im Westen. Von der übertriebenen Hoffnung, die ja gar nicht in Erfüllung gehen konnte, spricht auch Rainer Eppelmann. »Diese enttäuschte Hoffnung erklärt manches in unserer heutigen Haltung. Wir sollten stattdessen selbstbewusster sein, stolzer auf das, das wir geschafft haben. Bei euch war ja schon Aufstand bei 25 000 Arbeitslosen, bei uns sind heute fast sechs Millionen in anderen Berufen als denen, die sie vor dem Umbruch hatten.«
    Eppelmann ist von den Stasi-Banden verfolgt worden. Den geschätzten Mitarbeiter »Torsten«, den Rostocker Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, hatte Oberst Joachim Wiegand, Leiter der Hauptabteilung XX/4 im Ministerium für Staatssicherheit, bereits 1983 mit dem speziellen Auftrag »der aktiven Bearbeitung negativ-feindlicher Kräfte in der DDR, unter besonderer Beachtung von Pastor Eppelmann«, hinaus ins Feld geschickt. Besonders suspekt war der Stasi die Verbindung zwischen dem überzeugten Christen Eppelmann und dem kommunistischen Atheisten und Dissidenten Havemann, die sich im berühmten Berliner Appell »Frieden schaffen ohne Waffen« manifestiert hatte.
    Der Optimist, der nicht zum Jammern neigt, kann allerdings nicht mal heute über eine Szene lachen, die er mit IMB Schnur erlebte. Er und Freund Wolfgang waren unterwegs von Berlin nach Leipzig. Dass die Stasi ihn nicht aus den Augen ließ, wusste Eppelmann. Monate zuvor hatte er das Auto von Robert Havemann auf einer Fahrt nach Dresden benutzt, und die Typen im Lada waren hinter ihm hergefahren, ohne sich darum zu scheren, ob er das merkte oder nicht. »Ich bat Wolfgang, sich doch mal umzudrehen und zu schauen, ob die Stasi wieder hinter mir fuhr. Er drehte sich um, schüttelte dann den Kopf und sagte, nein, alles

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