Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
wieder nach dem Umbruch die Rede war, hat es in Wahrheit ja nicht gegeben. Man hätte aber tatsächlich Volkseigentum schaffen und die baufälligen Plattenbauten günstig an die verkaufen können, die eh darin wohnten.
In seinem holzgetäfelten Amtszimmer scheint der Herr Bürgermeister zwischen einzelnen Sätzen am liebsten spontan aufspringen zu wollen, um Dringenderes zu erledigen. Er bleibt sitzen. Überm Schreibtisch hängt ein Kreuz. Es kündet vom unerschütterlichen Vertrauen des Katholiken in den, der auch bei ihm mal das letzte Wort haben wird. Immer dann, wenn Oecknigks Mitbürger vom Glauben an die Gegenwart abfallen, immer dann, wenn sie die Hoffnung auf Zukunft verlieren und anfangen, ostalgisch in die Vergangenheit zu tauchen, erinnert er sie an ihre Zivilcourage, die sie im Herbst 1989 unter schwierigeren Umständen bewiesen haben: »In der St. Marienkirche waren damals dreitausend Leute versammelt, draußen stand die Stasi, aber die hatten Angst, wir hatten Mut.«
Er regiert eine Stadt mit elftausend Einwohnern.Vor dem Umbruch waren es eintausendvierhundert mehr. Siebenhundert sind umgezogen auf die nahen Friedhöfe, viele weggezogen in den fernen Westen. Auch die werden nie zurückkommen. Das weiß Oecknigk, er quatscht sich die Realität nicht schön, er stellt sich der Krise, senkt aber nicht den Blick vor ihr, hält mutig stand. Diese trotzige Haltung, die man einst in der DDR nur insgeheim hatte trainieren können, um bloß nicht der Staatssicherheit aufzufallen, hat er instinktiv als Überlebensmittel für die Neuzeit eingesetzt.
Hat sie schon unter Beweis gestellt, als er sich 1990 nach der Wahl zum Bürgermeister in seinen Trabi setzte und gen Westen fuhr, um seine Stadt anzubieten auf dem freien Markt.
Im Schwarzwald überzeugte er Manager des Armaturenwerkes Grohe von der Klasse Herzberger Fachkräfte, die sich mit der feinmechanischen Herstellung von Wasserhähnen, Duschköpfen usw. bestens auskannten, weil sie die bereits im untergegangenen Mangelstaat gefertigt hatten. Die Technik an sich hatten sie also locker drauf, wie Oecknigk das ausdrückte, traditionell über drei Generationen hinweg. Was ihnen allerdings fehlte, waren moderne Maschinen. Die bodenständigen Schwaben hörten ihm zu, ließen sich dann vor Ort das Werk zeigen, sprachen mit den Arbeitern und meinten anschließend, prima, ihr passt zu uns, wir kommen in den nahen Osten.
Heute würde Michael Oecknigk, aus bitterer Erfahrung klüger, nicht mehr alles glauben, was ihm versprochen wird. Die Manager von Grohe aber kamen tatsächlich, übernahmen zu den üblichen günstigen Bedingungen der Treuhandanstalt das einst volkseigene Armaturenwerk, seit jeher wichtigster Arbeitgeber der Stadt, und schufen dreihundert Jobs in den alten Fabrikhallen. Etwa so hatte man sich in Herzberg die neue Zeit vorgestellt. Auferstanden aus Ruinen, dem Westen zugewandt, ab sofort mit dem auch wirtschaftlich vereint unter dem Gütesiegel »Made in Germany«.
Dass dieses Siegel bald auch auf Produkten stehen würde, die nicht in Deutschland, sondern entweder am chinesischen Ende der Welt oder kaum drei Stunden von Herzberg entfernt hergestellt wurden, weil westdeutsche Firmen in Rumänien oder Ungarn oder Tschechien eine Niederlassung gegründet hatten und Made in Germany da günstiger zu erzeugen war, konnten die Ostdeutschen nicht ahnen. Das überstieg ihre Vorstellungskraft. Kaum hatten sie sich an die Marktwirtschaft und die harte Währung gewöhnt, lagen noch ausgelaugt von orgiastischen Konsumräuschen mit der lange vergebens begehrten D-Mark selig erschöpft im Bett, schon mussten sie sich auf den nächsten Geliebten einstellen, den Euro.
Mit dem begann in Europa ein neues Spiel ohne Grenzen. Vor den jetzt auftretenden Herren der Globalisierung, global players genannt, fremdelten zwar auch die Westdeutschen, betrachteten sie deshalb misstrauisch. Aber den Ostdeutschen waren sie noch nicht einmal suspekt. Sie wussten schlichtweg nicht, was die machten. Doch selbst wenn sie es gewusst hätten, wäre ihnen eine Zukunft als Bauern auf dem globalen Schachbrett nicht erspart geblieben. Globale Spieler ziehen auf der Suche nach den günstigsten Produktionsbedingungen durch die Welt und setzen ihr Kapital da ein, wo ihnen die höchste Rendite winkt. Nach ihnen die Sintflut.Was sie zurücklassen, ist nicht ein bald wieder absinkendes Hochwasser, sondern Menschen, denen das Wasser bis zum Hals steht, die vom Untergang bedroht sind und bald
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