... Wie Gespenster in der Nacht
eigene auszudenken und sie aufzuschreiben oder zu malen. Und dann hörte sie aufmerksam zu und zeichnete die Figuren, die die Kinder erfanden, genau nach Anweisung, Änderungsvorschläge und Verbesserungen eingeschlossen.
Heute warteten viele Bilder auf sie. Sara war in ein Einzelzimmer verlegt worden, aber Fiona hatte sich gezwungen, das leere Bett zu ignorieren, und ihre ganze Aufmerksamkeit den anderen Kindern zugewandt. Sie hatte sich um Unbeschwertheit und Heiterkeit bemüht, doch die Kinder selbst waren bedrückt. Sara war der Liebling der Station. Sie war auch die Jüngste, und jeder wusste, wie krank sie war.
Jetzt blätterte Fiona durch die Skizzen, wie sie es schon mindestens ein Dutzend Mal an diesem Abend getan hatte. Ein Fabelwesen, das einer der Jungen sich ausgedacht hatte, war ein zehn Meter großes feuerfressendes Monster, das jede Flamme löschte, indem es einen tiefen Atemzug nahm. Mit blinden Augen starrte Fiona auf die Zeichnung. Kinder waren unkompliziert und direkt. Gäbe es ein solches Monster, läge der kleine Junge nicht hier auf der Station.
Tränen traten ihr in die Augen, Wut und Schmerz füllten ihr Herz. Sie klappte den Zeichenblock zu und drückte ihn an ihre Brust. Schon vor Langem hatte sie gelernt, wie unnütz es war, mit dem Schicksal zu hadern. Und dennoch – in Gedanken wütete und fluchte sie.
„Fiona?“
Den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte sie, sie hätte sich Andrews Stimme nur eingebildet. Doch dann blickte sie auf und sah ihn in der Tür stehen. Sie legte den Block auf den Platz neben sich und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange. „Wie lange stehst du da schon?“
Andrew ignorierte die Frage. Er ging zu ihr, zog sie vom Stuhl hoch und in seine Arme. Tagelang hatte sie versucht, sich das Gefühl auszumalen, wie es war, von ihm gehalten zu werden, seinen Körper an ihrem zu spüren. Jetzt musste sie feststellen, dass ihre Fantasie der Realität nicht das Wasser reichen konnte. Die Realität war ein so überwältigendes Gefühl wie ein völlig anderes Universum.
„Ist ihr Zustand schlimmer geworden?“, fragte er leise.
Er drückte seinen Mund auf ihr Haar, sein warmer Atem strich über ihren Kopf. Sie klammerte sich an ihn, und die Tränen kullerten jetzt unablässig. „Nein, aber es gibt auch nicht das kleinste Anzeichen für eine Besserung“, schluchzte sie.
„Wenn es ihr nicht schlechter geht, dann ist das ein gutes Zeichen.“
„Ich bin es so müde, so zu tun, als wären schlechte Dinge gut, weil es ja auch noch viel schlimmer sein könnte.“ Sie lachte gequält auf. Es klang eher wie ein Flehen.
„Schh …“ Er drückte sie enger an sich. „Ich weiß.“
„Ihr ging es doch schon so viel besser!“
„Und uns beiden war klar, dass diese Möglichkeit besteht. Man hat uns gewarnt. Pamela selbst hat mich gewarnt.“
„Warum haben sie sie nicht davor bewahrt? Sie hätten keine Besucher auf die Station lassen dürfen. Sie hätten uns nicht zu ihr lassen dürfen!“
„Die Klinik tut alles Menschenmögliche. Und sie erlauben uns, die Kinder zu besuchen, weil auch ihre Seelen heilen müssen.“
Doch Fiona schluchzte nur stärker. Er strich ihr unablässig über das Haar, tröstend, zärtlich, beruhigend. Je angestrengter sie versuchte, sich zusammenzunehmen, desto schneller rollten die Tränen. Und Andrew hielt sie nur stumm, wiegte sie vor und zurück, bis der Tränenstrom schließlich irgendwann versiegte.
Er zog ein riesengroßes weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es ihr hin. „Hier. Wisch dir die Tränen ab.“
Sie nahm das Taschentuch und konnte spüren, wie er sich von ihr zurückzog. Nicht abrupt, sondern als ob er sie langsam entwöhnen würde. „’Tschuldigung“, murmelte sie und schluckte die letzten Tränen hinunter. Hinter der überwältigenden Trauer meldete sich jetzt Beschämung. Fiona wurde mit jeder Sekunde verlegener.
„Fiona.“ Er hob ihr Kinn an, dass sie ihn mit ihren rot geweinten Augen ansehen musste. „Wag es nicht, dich zu entschuldigen! Ich würde am liebsten selbst heulen.“
„Warum tust du es dann nicht?“
„Vermutlich habe ich wohl vergessen, wie es geht. Du wirst das für uns beide übernehmen müssen.“ Er nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich zu dem kleinen Sofa, zog sie hinunter an seine Seite. „Erzähl mir alles, was du weißt.“
Sie hatte sich schon lange genug bei ihm angelehnt, also rückte sie von ihm ab und setzte sich gerade hin. Ihre Hand
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