... Wie Gespenster in der Nacht
würde man gar nichts mehr sehen können. „Was hältst du davon, Jamie? Lass uns die ganze Nacht hier draußen bleiben und abwarten, ob sich dein Ungeheuer nicht noch einmal zeigt.“
„Hier draußen im Dunkeln? Allmächtiger! Nein, ich denke nicht. Ich habe sie mein eines Mal gesehen, ich werde mein Schicksal ganz bestimmt nicht herausfordern, Mr. Gow. Da liege ich doch lieber nachts in meinem warmen Bett, wo es keine Ungeheuer zu sehen gibt. Leider“, fügte er mit einem weiteren Blinzeln an.
„Was willst du dann für dein Boot haben? Wir fahren zurück, du überlässt es mir für die Nacht, und morgen früh bringe ich es dir wieder unversehrt zurück.“
„Mein Boot? Nein, besser nicht. Das kann ich Ihnen nicht überlassen. Außerdem gehört es sowieso meinem Bruder, und wenn …“
„Fünfzig Pfund“, unterbrach David ihn.
„Sie sagen, Sie bringen es heil wieder zurück?“
„Richtig, das sagte ich.“
„Einverstanden. Für fünfundsiebzig. Und die gleiche Summe als Kaution. Die kriegen Sie zurück, wenn ich das Boot ohne Kratzer zurückkriege.“
„Abgemacht.“
Jamie war sehr zufrieden mit sich, dennoch schüttelte er mitleidig den Kopf. „Das wird eine lange, kalte Nacht, Mr. Gow.“
David starrte auf den Horizont. Das Ufer schien mit jeder Sekunde mehr zu verwischen. „Davon gehe ich aus, Jamie. Aber alles hat eben seinen Preis. Und ich fürchte, ich habe genug gehabt von den Wintern in Schottland.“
Stardust fürchtete sich davor, bis in die Mitte vom Serenity Lake zu schwimmen. Auch wenn ihre Fischfreunde sie mieden, weil ihre Größe ihnen Angst einjagte, so war doch überhaupt kein Mut nötig, um nahe dem vertrauten Ufer zu bleiben, wo sie geboren worden war. Natürlich war sie einsam und sehnte sich nach einem Freund. Manchmal stellte sie sich einen anderen Drachen vor, der genauso aussah wie sie, mit einem langen schlanken Hals, der aus dem Wasser ragte wie der höchste Turm eines Schlosses, und mit einem Körper, der so hohe Wellen machen konnte, dass der goldene Sand auch am weitesten entfernten Ufer noch vom Wasser umspült wurde. Viele Monate lang war es ihr Freude genug gewesen, sich einen solchen Drachen vorzustellen.
Doch dann wachte Stardust eines Morgens in ihrem Bett aus Seegras auf dem Grund des Sees auf, und sie konnte sich einfach keinen anderen Wasserdrachen mehr vorstellen. Sie versuchte es den ganzen Tag, bis in den späten Abend hinein. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, kein einziges Bild wollte sich mehr in ihrem Kopf formen. Ihre Vorstellungskraft war aufgebraucht, bis auf den letzten Rest. Und als Stardust an diesem Abend zu Bett ging, da wusste sie, ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als zum gegenüberliegenden Ufer zu schwimmen und einen echten Freund zu finden.
Sara ging es besser. In den zwei Wochen seit der Krise hatte ihr Zustand sich stetig gebessert, sodass die Ärzte das Programm mit Hauttransplantationen und Therapie, welches ausgesetzt worden war, wieder aufnahmen. Das Mädchen lag auch wieder auf der Station mit den anderen Kindern. Fiona hatte sie zweimal besucht.
Andrew dagegen hatte sie schon länger nicht mehr gesehen.
„Andrew müsste bald wieder zurück sein, oder?“, fragte Mara eines Morgens. Sie schaute über Fionas Schulter auf die Zeichnung, die Fiona mit Tusche von ihren Skizzen anfertigte.
„Sicher.“ Sie hatte wirklich keine Ahnung, wann Andrew von seiner letzten Schicht der Saison zurückkommen würde. Am Morgen nach ihrem Zusammenstoß in dem alten Hotel waren sie nur so lange in Glasgow geblieben, bis sie die guten Nachrichten über Sara gehört hatten, dann hatten sie sich auf den Rückweg nach Druidheachd gemacht. Die Fahrt hatten sie schweigend verbracht, nur einmal hatte Andrew sie kurz gefragt, ob alles in Ordnung mit ihr sei, und sie hatte knapp mit: „Ja, sicher“, geantwortet. Sie hatte sich entschuldigen wollen, doch er hatte nichts davon hören wollen. Und danach hatte keiner von ihnen beiden noch ein Wort gesagt.
„Es ist so schade, dass er die ganze Aufregung verpasst hat.“ Mara brauchte nicht zu erklären, was sie mit „der ganzen Aufregung“ meinte. Andrews Darling war vor ein paar Tagen erneut gesichtet worden. Ein Reporter aus einem winzigen Nest in West Lothian hatte die Nacht in einem Boot draußen auf dem See verbracht. Kurz vor dem Morgengrauen war seine journalistische Ausdauer dann belohnt worden.
„Ich bin mir keineswegs sicher, ob Andrew überhaupt dabei sein wollen würde“,
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