Wie ich Brad Pitt entführte
Fall hatte plötzlich keiner meiner Bekannten und Freunde mehr Zeit für mich.
Wenn ich morgens bei meiner Freundin Siggi anrief, die zwar genauso wenig arbeitete wie ich, dafür aber ein zweijähriges Alibikind vorweisen konnte, das ihrem Leben Sinn gab, ging sie gerade mit Johanna zu »PEKIP«, oder sie turnte im Kurs »Mama&Kind fit«, oder sie musste gerade in dieser Sekunde Johanna den Hintern abwischen oder das elementar-wichtige Dilemma »Waldorfkindergarten oder doch lieber Montessori« klären.
Selbst Linda reagierte unwirsch auf meine liebesbedürftigen Anrufe: »Vicki, ich schwör’s dir, wenn du mich noch ein einziges Mal aus einer OP rufen lässt, narkotisiere ich dich! Und zwar für immer!«
Aber wie heißt es so schön, aus jeder Krise erwächst Neues. Mein »Neues« kam dank RTL sogar täglich direkt in mein Wohnzimmer. Die Serie hieß »Südstadt«, spielte hier in Köln und hatte den wohl schönsten Hauptdarsteller, den man sich nur vorstellen kann. Tom eben. Obwohl er in »Südstadt« Paul Kellermann heißt. Ich weiß, etwas verwirrend. Auch für mich, manchmal.
Aber, wie bereits erwähnt, beseitigte ich gerade Stefans letzte Spuren und hatte dabei den Fernseher angestellt, um weniger allein zu sein. Tieftraurig steckte ich mir eine Trostzigarette an und starrte dabei abwesend auf die Mattscheibe. Irgendwie müssen die Bilder von Toms Gesicht zu meinem leidenden Unterbewusstsein vorgedrungen sein. Vielleicht sah er genauso innerlich zerrissen und seelenwund aus, wie ich mich fühlte. Auf jeden Fall tat ich etwas, was ich noch nie gemacht hatte: Ich setzte mich vor den Fernseher und sah zum ersten Mal in meinem Leben eine Vorabend-TV-Serie bis zum Ende an.
Die Geschichte von »Südstadt« ist einfach: Tom alias Paul ist ein Polizist, der seine Frau durch ein tragisches Verbrechen verloren hat. Als der vermeintliche Mörder unter ungeklärten Umständen noch vor der Gerichtsverhandlung selbst zu Tode kommt, wird Tom alias Paul vom Polizeidienst suspendiert.
Von nun an nimmt er Recht und Gesetz selbst in die Hand: Er übernimmt Fälle, die von der Polizei als ungeklärt aufgegeben worden sind. Diese löst er – oft mit attraktiv entblößtem Oberkörper – auf seine eigene Weise, die besonders im Umgang mit den mutmaßlichen Verbrechern nicht gerade die zimperlichste ist. Mit seiner einfühlsamen Art zuzuhören, entlockt er dabei den grundsätzlich weiblichen Opfern Informationen, die die Polizei übersehen hat. Aus Dankbarkeit für seine Dienste (und natürlich nicht, weil er der heißeste Typ ist, den sie je gesehen haben) verlieben sich diese Damen dann allesamt in ihn. Aber Tom alias Paul ist noch nicht für eine neue Beziehung bereit, und so leidet er in jeder neuen Folge unbeirrt weiter.
Ich träumte an jenem schicksalhaften Abend von ihm und saß am nächsten Tag wieder vor der Mattscheibe. Und am nächsten. Und am übernächsten. Eigentlich wird »Südstadt« seit drei Jahren wöchentlich gesendet, aber zu dieser Zeit wurden gerade alte Folgen täglich wiederholt. Um es kurz zu machen: Ich verfiel »Südstadt« und Tom alias Paul mit Haut und Haaren. Jede neue Episode bescherte mir fünfundvierzig Minuten reinstes Glück. Ich begann, Sendungen aufzunehmen und mir wieder und wieder anzuschauen. Die Donnerstage, an denen neue Folgen gesendet wurden, waren mir heilig. Kurz gesagt: Nie war ich glücklicher.
Linda konnte es nicht fassen. »Diese verdammte Serie! Stiehlt dir doch nur die Zeit! Mach doch endlich mal was Sinnvolles! Und wenn’s nur ein neuer Freund ist!«, schimpfte sie.
Ich schaute sie nur stumm, mit vor Liebe überfließenden Augen an.
»Dieser Typ ist Schauspieler!« Ihr vorwurfsvoller Ton hätte auch zu »Massenmörder« gepasst. »Da ist ja der blöde Drehbuchautor noch interessanter, der hat sich den Quatsch wenigstens ausgedacht!«
Aber ich hatte mein Ideal gefunden: eine feste Beziehung ohne das Risiko, verlassen oder enttäuscht zu werden. Ich konnte Tom einschalten, wann immer ich wollte, und er war für mich da. Auf Knopfdruck. Ich zelebrierte unsere Abende, stellte Champagner kalt, hängte das Telefon aus und ließ mich ganz auf ihn ein. Die Vorfreude beschäftigte mich den ganzen Tag. Selbst wenn die Episoden herzzerreißend waren und ich wie ein Schlosshund heulte, fühlte ich mich ihm näher als meinen gesammelten Ex-Freunden zusammen. Die Art und Weise, wie er seine tote Frau vermisste, berührte mich. Wie er diesen Schmerz ertrug, ohne ihn durch andere
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