Wie ich mir das Glück vorstelle
lustige Stelle, die mir Lily zeigt. Wenn du da deinen Po auf den Boden machst und die Vorderbeine hochhebst, rutschst du einen kleinen Hang runter ins Staubloch. Lily und ich machen das und alle anderen machen es uns nach. Sogar die Oma rutscht da runter. Das sieht witzig aus, weil die nämlich erst ihre Vorderbeine gar nicht so richtig hochbekommt. Und nachdem sie da runterrutscht, sagt sie, dass wir jetzt ganz schnell weitermüssen, weil es bald dunkel ist und wir noch einen längeren Weg vor uns haben. Also ziehen wir wieder alle weiter. Die Mutter nimmt mich unter ihren Bauch. Ich bin müde. Mir fallen beim Gehen immer wieder die Augen zu. Über mir spüre ich den warmen Bauch von der Mutter und rechts und links von mir sind ihre Beine. Nur einmal bin ich noch richtig wach, weil Ndololo aus der Gruppe abhaut. Wie ein Bekloppter rennt der auf eine Gruppe Warzenschweine los und trompetet die alle auseinander. Ich frage die Mutter, ob wir Ndololo nicht hierlassen können. Aber die Mutter sagt, dass Ndololo jetzt zu unserer Familie gehört. Rosie muss ihn wieder einfangen und rennt auch zu den Warzenschweinen. Es dauert nicht lang. Wir ziehen weiter Richtung Busch. Dort legen wir uns hin. Die Sonne ist weg. Mit einem Mal ist es viel kühler. Der Himmel ist schwarz. Er glitzert. Die Oma, die Mutter und die Tanten bleiben noch wach. Sie kratzen sich an den Bäumen und passen auf. Hinter mir liegt Kilabasi. Der kleine Ndololo lutscht an Rosies Ohr. Da ist der schöne Po von Arosina. Lily liegt neben mir. Sie macht die Augen zu. Sie legt ihren Rüssel auf meinen Rüssel. Ich kann ihren Atem spüren. Auch ich mache die Augen zu. Im Halbschlaf denke ich an dich. Alles, was du wissen sollst, steht nun in diesem Buch. Alles, was geschieht, ist hier. Hier, wo mein Herz ist.
DER LETZTE TAG
Es ist dunkel. Das Wasser umspült seine Füße. Stufe für Stufe geht der Junge hinab in das Meer. Das Wasser trägt ihn. Es schmeckt salzig. Er muss nichts tun. Eine Welle greift nach ihm und trägt ihn hinaus. Die Lichter des Schiffes kann der Junge nicht mehr sehen. Für einen Moment ist er unter Wasser. Es ist nicht schlimm. Das erste, was er sieht, als er seine Augen öffnet, ist eine Möwe. Sie steht direkt über ihm im Wind und bewegt sich keinen Meter vorwärts. Wo sie die Beine hingetan hat, kann der Junge nicht erkennen. Ihr Bauch ist wunderschön. Er würde ihn gerne berühren. Aber dann lässt sich die Möwe fallen, verschwindet aus seinem Blickfeld, und der Junge kann unendlich weit in den Weltraum schauen. Wie ein Feuerwerk, das plötzlich den ganzen Himmel erleuchtet und die Fischer und Matrosen aller Ozeane an Deck ihrer Boote treibt, steht Viktors letzter Gedanke in tausend kleinen Funken weit über dem Meer und verschwindet kurz darauf für immer im Leuchten der Sterne.
ENDE
Über den Autor
Martin Kordić wurde 1983 in Celle geboren und arbeitet als Lektor in Köln. Er studierte am Institut für Literarisches Schreiben der Universität Hildesheim und an der Universität Zagreb. Wie ich mir das Glück vorstelle ist sein erster Roman.
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