Wie ich Rabbinerin wurde
der andere ohnmächtig ist. Warum der eine den anderen – auch geistig – vernichten kann und warum der andere nach den Regeln der Ohnmacht reagiert. Sich durchzusetzen bedeutet noch nicht, dass man Macht hat.
Wenn linke Geisteswissenschaftler viel von jüdischen Denkern und Philosophen gelernt haben, dann kommt mir schnell der Verdacht, dass sie dabei sehr wohl unterscheiden, wer die »guten Juden« sind und welche man getrost nicht berücksichtigt. Die »guten Juden« sind dabei nicht diejenigen, die demjüdischen Kollektiv dienen. Es sind diejenigen, die auf dem Weg hinaus sind, ohne jedoch jemals ganz auf der anderen Seite anzugelangen – die »nichtjüdischen Juden«, wie Isaak Deutscher sich selbst genannt hat, die mit jüdischen Lehren im säkularen Gewande, sei es der Sozialismus, seien es universalistische Utopien, die Mehrheitsgesellschaft bereichern und damit zu »guten Juden« werden. Wer von ihnen »lernt«, mit ihnen »befreundet« ist, kann angeblich »kein Antisemit« sein. Ich bekomme ein schales Gefühl, wenn mir jemand sagt, seine wichtigsten Lehrer seien Juden. Meist geht damit unausgesprochen die Definition des »schlechten Juden« einher. Dieser ist danach freilich nicht für sich selbst verantwortlich, sondern nur das Produkt der nichtjüdischen Gesellschaft. Sie habe ihn als »schlechten Juden« überhaupt erst erschaffen – den »jüdischen Grundstücksspekulanten« in Zwerenz’ Roman, eine Neuversion des »Hofjuden«, ebenso wie die verfolgten »Juden« in Max Frischs
Andorra
und auch die angeblich künstlich von Antisemiten erschaffenen »Juden« in Jean-Paul Sartres
Reflektionen zur Judenfrage
. Lebten wir in einer besseren Gesellschaft, gäbe es keine »schlechten Juden«, dann blieben nur die »guten« übrig, die auf dem Weg der Anpassung jenen »schlechten« Bezirk bereits verlassen haben, den sie nicht selbst, sondern den die nichtjüdische Gesellschaft geschaffen habe. Das fügt sich in das Bild einer »von Juden gereinigten« Welt, in der kein originär jüdischer Pol – im Guten wie im Schlechten – von sich aus gestaltend wirkt.
3. Journalistin
Z um Abschied von Hamburg im Jahre 1986 schenkt mir Rita eine Zeichnung mit uns vieren beim Torastudium – jede in ihrer jeweils typischen Pose. Ich habe auf der Zeichnung die Arme hochgeworfen und lache. Rita hat in die aufgeschlagenen Bibeln ein oder zwei hebräische Schlüsselworte der jeweiligen Lieblingsgeschichte hineingezeichnet. Bei mir ist es
Malkizedek
(»König der Gerechtigkeit«), jener vorisraelitische Priester von
Schalem
(»Fülle«), der erkennt, wer Abraham ist, und ihn segnet.
Fast drei Jahre haben wir nun Wochenende um Wochenende den biblischen Text im hebräischen Original gelesen und sind bis zu den Geschichten von Josef und seinen Brüdern gelangt. Damit haben wir immerhin den größten Teil des ersten Buches der fünf Bücher Mose geschafft. Wie ich in Berlin das gemeinsame Lesen vermissen würde! Obwohl ich damit noch immer kein Ziel verbinde, sondern es lediglich als ein privates Vergnügen zu betreiben glaube, bedeuten mir die Momente, in denen der Text zum Medium zwischen uns vieren wird – Momente, in denen plötzlich Erkenntnisse zu einem Wort, einem Satz, zu einer symbolischen Bedeutung hinter dem Erzählten aufleuchten –, ungleich mehr als alles, was ich im Studium der Politischen Wissenschaft gelernt habe. In unserer Hamburger »
Frauen- Jeschiwa
«, wie wir sie liebevoll nennen, habe ich gelernt, dass sich die Geheimnisse des biblischen Textes nicht durch reines Lesen erschließen. Man muss ihn
erleben
.
Zunehmend fädelt sich das, was zwischen uns vieren an Einsichten und Erkenntnissen aufgekommen ist, in meine gelebte Gegenwart. »Gott« ist für mich längst nicht mehr das fremde Wesen im Himmel, das von oben schaltet und waltet, belohntoder bestraft und einen Kodex von archaischen Geschichten und Religionsgesetzen geschaffen hat. Auch wenn ich immer noch das Wort »Gott« vermeide und versuche, es so gut es geht in psychologisierender Sprache zu umschreiben, geniere ich mich inzwischen nicht mehr, über die »heilige Dimension« im Menschen zu sprechen. »Gott« sei dabei nur ein anderes Wort für »Intensität« oder »Präsenz«. Wenn Abraham plötzlich drei Männer aus der Ferne auf sein Zelt zukommen sieht und sofort weiß, jetzt die Offenbarung seines Lebens zu empfangen, dann ist dies die Intensität eines Momentes, wie jeder Mensch sie erleben kann. Offenbarungen
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