Wie ich Rabbinerin wurde
dem Antisemitismus schlagkräftig begegnet. Und so reicht es mir als junger Erwachsene, wenn ein paar alte Männer für mich und meinesgleichen die Tradition erhalten und wir nicht öfter als dreimal im Jahr in der Synagoge erscheinen und unsere Aufmerksamkeit ansonsten den drängenderen Themen – der Situation in Israel und den immer neuen Auflagen des Antisemitismus in Deutschland – widmen.
»Was macht dich zur Jüdin?«, will mein damaliger Freund wissen. Ich muss lange überlegen, denn ich will ihm eine ehrliche Antwort geben. Es ist kaum die jüdische Religion. Und auch nicht die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, zumal mir allein schon das Wort »Volk« nicht behagt. Eher die jüdische Geschichte. Es ist, wie ich schließlich antworte, »mein in Auschwitz ermordeter Großvater«.
Doch das bedeutet mehr, als einer verfolgten Minderheit anzugehören. Es bedeutet, dass wir Juden etwas in uns tragen, dasfür viele nicht ertragbar ist. »Israel« –
Jisra-El
, »er kämpft mit Gott« oder »Gott kämpft« –, so heißt das Siegel des heiligen Volkes. Ab 1939 müssen alle Juden in Deutschland die Zwangsnamen
Israel
und
Sara
annehmen. Auch
Sara
kommt von »kämpfen«. Ich frage mich, ob in diesen beiden Namen das liegt, was die Nazis versucht haben zu vernichten – ja, was überhaupt all die offen und verkappt antijüdischen Ideologien vernichten wollen.
Kurz nach der Absetzung des Fassbinder-Stücks besuche ich einen Freund in Frankfurt. Er hat von Ignatz Bubis alle Briefe zur Verfügung gestellt bekommen, die in dieser Zeit an den Gemeindevorsitzenden geschrieben worden sind. Mein Freund will sie veröffentlichen. Es sind mehrere dicke Aktenordner mit Pro- und Kontrastimmen. Erstere triefen vor Philosemitismus. Ihre Schreiber bezichtigen sich der »deutschen Schuld«, warnen vor »den Deutschen« und meinen, dass »die Juden« die besseren Menschen seien. Die ablehnenden Briefe sind durchgängig antisemitisch. Bis dahin habe ich solche Jauche – außer in historischen Dokumentationen – noch nie zu Gesicht bekommen. Die Briefe sind oft mehrere Seiten lang, eng beschrieben, verrückt und überbordend in dem Wahn, dass die Juden die Welt kontrollierten.
Wie repräsentativ sind solche Briefe? Es sind immerhin mehrere Hundert in diesen Aktenordnern. Kenne auch ich womöglich solche Menschen? Mir scheint, als sprächen ihre Stimmen aus einer gänzlich fremden Welt. Mein Freund und ich schreiben die Briefe »sauber« ab. Wenn man zehn von ihnen hintereinander gelesen und »bearbeitet« hat, bekommen die überschnappenden, aberwitzigen, oft in fehlerhaftem Deutsch geschriebenen Anschuldigungen gegen die Juden unfreiwillig komische Züge – mitunter können sich mein Freund und ich vor Lachen kaum noch halten.
Aus der Herausgabe der Briefe ist nie etwas geworden. Aber im Zusammenhang mit dem geplanten Buch bekommt meine Beschäftigung mit »Macht« und »Ohnmacht« neuen Antrieb.Ich lese nicht nur Fassbinders Stück, sondern auch die Vorlage von Gerhard Zwerenz, ein 1973 erschienener Roman mit dem Titel
Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond.
Schon dieser Roman hat wegen des darin vorkommenden jüdischen Grundstücksspekulanten, der in dem Fassbinder-Stück nur noch »Jude« heißt, gleich nach seinem Erscheinen einen Skandal ausgelöst. Zwerenz hat sich gegen die Vorwürfe verteidigt. Antisemitismus sei ihm fremd. Denn sein wichtigster Lehrer sei Ernst Bloch, bei dem er in Leipzig Philosophie studiert habe.
Martin Heideggers wichtigster Lehrer ist Edmund Husserl gewesen. Und trotzdem hat er seinem jüdischen Mentor nach 1933 den Zutritt zur Universität verwehrt. Ob die »wichtigsten Lehrer« Juden waren oder es die »besten Freunde« sind oder ob man »viel von Juden gelernt hat« und sich unter Juden »wohlfühlt« – es sagt am Ende nichts über die wahren Machtverhältnisse aus. Ob die Hamburger Politologiestudenten mit ihrem »kritischen Ansatz« Seminar um Seminar die gegenwärtige Regierungspolitik auseinanderpflücken oder nicht – es rührt nicht an das, was den einen mächtig und den anderen unterlegen macht, was dem einen das Privileg der »Rücksichtnahme« gibt und dem anderen nur das Argument der »Angst« lässt.
Ohmacht bringt eigene Strukturen hervor, genauso wie Macht. Ohnmacht erzeugt ein eigenes System von Argumenten, Anliegen und Forderungen. Diese können sich durchaus wirkungsvoll durchsetzen. Die politischen Strukturen erklären nur zum Teil, warum der eine Macht hat und
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