Wie ich Rabbinerin wurde
geschehen jederzeit. Und meist geschehen sie mit der Hilfe der anderen, die einem das Entscheidende sagen. Wir alle tragen eine heilige Dimension in uns, die uns solche Intensität wahrnehmen lässt. Es liegt an uns, ob wir uns für unsere Offenbarungen öffnen und sie ernst nehmen. Auch die alten Ahnen im
Tanach
vertrauen ihren Offenbarungen nicht sogleich, lachen oder verwerfen sie – deshalb kommen die Boten und Botschaften immer wieder, bis sie angenommen sind und ins gelebte Leben eingehen. Eine Offenbarung fordert immer den ganzen Mut des Menschen zu seiner ganzen Wahrheit. Weil jedoch niemand diese ganz kennen kann und weil sie sich zunächst kaum ins Geflecht der Zwänge und Konventionen einfügt, ist sie so erschreckend und schlägt fast jeden erst einmal in die (Aus-)Flucht. »Israel« –
Jisra-El
, »er kämpft mit Gott« oder »Gott kämpft« – ist kein Aufruf zu lammfrommem Glauben. Es fordert den radikalen Mut zu sich selbst und gegen die eigenen Lebenslügen – wie jener »Mann«, der in jener Nacht am Ufer des Jabbok mit Jakob ringt und gegen den Jakob nichts vermag, und der Jakob am Morgen mit dem Namen
Israel
segnet.
Im Frühsommer 1986 beginne ich in Berlin ein Volontariat beim
Tagesspiegel
. Wenn ich nicht um das Geschenk meiner Hamburger »
Frauen- Jeschiwa
« wüsste, würde ich es bedauern, nicht schon früher nach Berlin gezogen zu sein. Vom ersten Moment an fordert mich die Stadt mit der unverhohlenenNacktheit all ihrer geschichtlichen Epochen heraus. Grob, fast obszön und ohne jeden Versuch, die Geschichtsbrüche zu überbrücken, bieten sich in Berlin das Kaiserreich, die Weimarer Republik und die N S-Zeit in ihrem ganzen Gescheitertsein dar. In der U-Bahn kündigt der Zugführer über die Sprechanlage an, an den folgenden, unterhalb des Ostteils gelegenen Stationen nicht mehr anzuhalten. Beim Vorbeifahren erkennt man im dämmrigen Tunnellicht bewaffnetes Wachpersonal und Schäferhunde. Ich bekomme eine Ahnung von der Realität der Ostblockdiktaturen. Auf einer Aussichtsplattform am Brandenburger Tor sehe ich die beiden nationalen Sackgassen, die von beiden Stadthälften kommend in der Mitte, an der Mauer, abrupt enden – Unter den Linden und die Straße des 17. Juni. Der Anblick gibt mir ein gutes Gefühl – weit weg von der Bundesrepublik, die hier »Westdeutschland« heißt, nicht mehr im Inland und auch nicht im Ausland, sondern in einer Zone von gleichzeitig nachwirkenden und wirkenden Geschichtsepochen, aufgeteilt in die vier Stadtsektoren der Alliierten, unter deren Patronat zumindest im Westteil unendlich viele Kieze gedeihen: Stadtteilkulturen, experimentelle Lebensnischen und Szenen wie etwa die Autonomenszene, die Frauen- und Lesbenszene oder die Multikultiszene, in denen gleichermaßen der Geist der Verweigerung gegenüber deutschen Großmachtträumen wirkt.
Vom ersten Moment an empfängt mich die Stadt auch mit einer mir bis dahin nicht bekannten Bereitschaft, die Verantwortung für die deutsche Vergangenheit zu tragen. Eine Erinnerungs- und Trauerkultur ist im Entstehen, die später in die Debatte um das Holocaust-Mahnmal mündet. Auf dem Prinz-Albrecht-Gelände, einer Brache mitten in der Stadt, sind die freigelegten Gestapo-Keller zur Dauerausstellung
Topographie des Terrors
eröffnet worden. Am U-Bahnhof Wittenbergplatz, direkt vor dem KaDeWe, wo stündlich Tausende von Passanten vorbeigehen, steht eine Tafel: »Orte des Schreckens, die wir nicht vergessen dürfen …« – und zählt sodann die deutschen Vernichtungslager auf. Mir gefällt die Selbstverständlichkeit,mit der diese Tafel auf diesem Platz steht – kein großer Zeigefinger, keine bedeutungsschwere Gestaltung, nur ein Zeichen im Alltag. Jeder kann selbst entscheiden, ob er beim Anblick der Tafel innehält. Solche und andere eindeutigen, nicht nur bei Gedenkveranstaltungen geäußerten Absagen an die deutsche N S-Vergangenheit sind dem indirekten, aber überall spürbaren Einfluss der Alliierten zu verdanken. Gerade in der älteren Generation der Redakteure beim
Tagesspiegel
klingt ein fortwährendes Bewusstsein für die Freiheit durch, die die westlichen Alliierten in die Stadt gebracht haben.
In dieser Freiheit werden Dinge aussprechbar, die unter den Hamburger Studenten und Professoren kein Thema gewesen sind. Ich lerne eine Philosophiestudentin kennen, die mir relativ schnell erzählt, dass ihr Vater in der SS gewesen sei. Obwohl ich schockiert bin, da mir solches noch niemand je so
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