Wie ich Rabbinerin wurde
offen mitgeteilt hat, folge ich nicht meinem ersten Impuls, sofort auf Distanz zu gehen, sondern erkenne darin die Chance: Dies ist nicht der »kritische Ansatz«, den ich vom Politologiestudium her gewohnt bin, der des N S-Regimes wissenschaftlich und von »oben« Herr zu werden versucht – ohne dabei die eigene, persönliche Verwicklung zu thematisieren. Diese Studentin führt eine Auseinandersetzung mit dem geistigen und psychischen Einfluss konkreter Personen in ihrer Familie auf die eigene Biographie. Sie beschreibt mir ihren Vater, dessen Tag damit beginnt, Geige zu spielen, und die Ambivalenz, diese Art von Kultiviertheit mit der blutig-verbrecherischen Eliteorganisation, der er angehört hat, in Verbindung zu bringen. Anhand von Sätzen wie: »Die Juden sollen mal lernen, was Arbeit ist« beschreibt sie mir auch, mit welchen moralischen Werten ihre Eltern vorgeben, nichts vom Genozid in den vermeintlichen »Arbeitslagern« gewusst, zugleich diese aber im Prinzip bejaht zu haben. Meine Begegnung mit dieser Studentin nimmt vorweg, womit etwas später der israelische Psychologe Daniel Bar-On bekannt wird: therapeutische Treffen zwischen »Täter-« und »Opferkindern«. Heute würde ich mich auf solche Begegnungen nicht mehr einlassen. Es hat von ihnen mehrere auchin organisierter Form in Berlin gegeben. Meine Erfahrungen dabei haben mir gezeigt, dass die »Täterkinder«, die ohnehin meist sehr viel intaktere Kindheiten genossen haben, oftmals nur bis zu einer bestimmten Grenze gehen und sich dann verschließen, während die »Opferkinder« von vornherein ungleich schutzloser ihren aufgerissenen Wunden ausgeliefert sind. Obendrein gefällt mir die Tendenz nicht, nach der sich am Ende alle als »Opfer« sehen, die »Täterkinder« gar versuchen, die Seite zu wechseln – bis hin zum Übertritt zum Judentum. Trotzdem hat sich bei diesen Begegnungen etwas in mir gelöst und mir geholfen, die Zone der Unaussprechlichkeiten, die wie ein Graben zwischen den »Nachgeborenen« wirkt, zu verkleinern. Das gilt vor allem auch für meine Fähigkeit, aus dem »Täter-Opfer«-Schema herauszutreten – meine eigene Lebensgeschichte vielschichtiger zu erleben und mir dabei mehr Eigenverantwortung zu gestatten.
Zunächst widme ich meine ganze Konzentration dem Volontariat im
Tagesspiegel
. Ich genieße es, keine »wissenschaftlichen« Seminararbeiten mehr schreiben zu müssen, sondern einfach nur in das Leben der Stadt einzutauchen. Anfangs bin ich noch darüber enttäuscht, dass mein Volontariat nicht in der Nachrichtenredaktion beginnt, wo es um »große Politik« geht, sondern im Ressort Lokales. Doch erweist sich dies als Segen. Täglich gehe ich zu Pressekonferenzen, lerne Menschen kennen, bekomme mit, wie Politik in den Berliner Verwaltungsstrukturen gemacht wird.
Das jüdische Leben ist hier ungleich facettenreicher als in Hamburg. Schon kurz nach dem Umzug trete ich in die Jüdische Gemeinde zu Berlin ein. Jeden Schabbat sind vier Synagogen in Betrieb. In keiner anderen Gemeinde Deutschlands können die Mitglieder wählen, ob sie eine orthodoxe oder eine liberale Synagoge besuchen. In so gut wie allen anderen Städten gibt es nur einen »Einheitsgottesdienst« für alle, der nach orthodoxer Art gehalten wird, jedoch manches unorthodoxeVerhalten übersieht, etwa dass fast alle Mitglieder am Schabbat mit dem Auto zur Synagoge fahren, ihre Geschäfte geöffnet sind und sie auch ansonsten in keiner Weise das absolute Arbeitsverbot halten.
An einem Schabbat besuche ich die liberale Synagoge Pestalozzistraße und erlebe dort erstmals einen Gottesdienst im Stil des 19. Jahrhunderts – mit Orgel und Synagogenchor, bestehend aus Männer- und Frauenstimmen, für die von Louis Lewandowski komponierte Liturgie. In Düsseldorf wäre ein solcher Gottesdienst undenkbar und würde allein schon wegen der Orgel als »zu kirchlich« abgetan. Ich höre an diesem Schabbat auch zum ersten Mal Estrongo Nachama, den berühmten Kantor, der als Einziger seiner griechisch-jüdischen Familie Auschwitz überlebt hat und nach dem Krieg in Berlin geblieben ist. Obwohl er selbst ein
sefardischer
Jude ist, hat er die vor der
Schoa
in Deutschland übliche Lewandowski-Liturgie gelernt und sie jahrzehntelang in dieser Synagoge am Leben erhalten. Mir ist ein Gottesdienst mit opernähnlichen Tenor- und Sopranstimmen fremd. Aber als Nachama das
Barchu
(»Lasst uns segnen«) anstimmt, kann ich mich nicht mehr halten. Es ist dieses unbeirrbare
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