Wie ich Rabbinerin wurde
Deutsch »nicht ganz deutsch«, und es behandelt das Jiddische als Chiffre für die untergegangene Welt – untergegangen zum einen in der
Schoa
, zum anderen aber auch in Israel, da sich die frühen Zionisten für
Iwrit
entschieden haben. In der Art, wie wir im Deutschen immer wieder Jiddisches verwenden, klingt eine gespielte Ironie mit an – wer »wir« einmal waren, aber nicht mehr sind. Zugleich drängen wir damit Unstimmigkeiten der Gegenwart in eine verlorene Vergangenheit zurück, an deren Verlust nichts mehr zu ändern ist. Wenn ich unter den jüdischen Jugendlichen in Düsseldorf etwas von den Spannungen zwischen Lilo und mir durchblicken lasse, fällt schnell die Bemerkung: »Was willst du? Sie ist eben eine
jiddische Mame
.« Die jüdischen Mütter seien alle schon im
Stetl
Dragoner und Drachen gewesen. Aber Lilo stammt nicht aus dem
Stetl
.
Heute genießt Jiddisch, dank der Jiddischisten in den USA, wieder den Rang einer Kultursprache, für die inzwischen Lehrstühle an den Universitäten eingerichtet sind. Auf dem jüdischen Kulturkongress
Tarbut
im Jahr 2004 bei München erlaubt sich einer der Moderatoren, zwischendurch ein bisschen zu jiddeln.Das Publikum feixt. Doch meine Nachbarin wendet sich unangenehm berührt ab. Als ich sie darauf anspreche, sagt sie mir: »Weißt du, mein Vater hat jiddische Zeitungen gelesen und jiddische Poesie geliebt! Und der da vorne tut so, als könne er Jiddisch. Dabei verballhornt er die Sprache.«
Zwischen dem simulierten Israel und den unwiederbringlich untergegangenen Welten hat die jüdische Religion keine Chance, eine eigene Wirkung zu entfalten. Lange halte ich die brabbelnde Geräuschkulisse des Gottesdienstes für sein wesentliches Merkmal. Der Rabbiner und der Kantor machen vorne, was zu machen ist. Sie sind von der Gemeinde dafür angestellt, den Traditionsbetrieb aufrechtzuerhalten. Derweil unterhalten sich die Frauen auf der Galerie ungeniert mit ihren Nachbarinnen, die Männer unten tun dasselbe. In dem Stimmengewirr von Gebeten, Gesprächen und herumlaufenden Kindern ertönt unvermittelt ein »
Jitgadal wejitkaddasch
…« (Anfangsworte des
Kaddisch
) – und man wähnt sich sicher, dass ein paar alte Männer schon wissen, an welcher Stelle man mit dem »
Jehej schme raba …
« einsetzt.
Gegenüber einem nichtjüdischen Freund, der von dieser »chaotischen Atmosphäre« schockiert ist, habe ich den jüdischen Gottesdienst verteidigt: Er sei »ehrlicher« als sein christliches Pendant. Es werde von einem nicht verlangt, dass man alles glaubt, was im
Sidur
steht – dass Gott allmächtig, gnädig und barmherzig sei, dass er sein Volk Israel beschütze und wir Juden uns nichts sehnlicher wünschten, als die Gebote der Tora zu erfüllen. Vielmehr sei Gott so etwas wie ein alter Würdenträger, der mit am Tisch sitzt, dem zuliebe man die alten Konventionen einhält – doch ansonsten gehe man seiner eigenen Wege in einer modernen Welt, von der Gott nichts verstehe.
Die Rabbiner, die ich in meiner Kindheit erlebe, entsprechen diesem Bild. Geblieben sind Erinnerungen an großväterliche Männer, die anders als alle anderen leben – die fast als Einzige in ihrer Gemeinde
koscher
essen, am Schabbat nicht telefonieren und alle hebräischen Gebete sprechen. Sie verstehen beijüdischen Festen die Menge mit vielen Witzen und lustigen Geschichten von wundersamen Rabbis an wundersamen Orten zu unterhalten. Aber sie repräsentieren eine Welt, in der sonst fast niemand mehr in der Gemeinde lebt.
Gewiss, wir Kinder haben gelernt, was zu lernen ist, um das Minimum zu erhalten – die Mädchen, wie sie zum Schabbat die Kerzen anzünden, die Jungen, welche
Bracha
sie beim Tora-Aufruf sagen. Als ich noch den Religionsunterricht in Düsseldorf besuche, müssen alle Schüler am
Kabbalat-Schabbat -Gottesdienst
teilnehmen. Wir bilden einen Synagogenchor. Jedes Kind bekommt vom ungarischen Kantor Imre Rubovic eine der vielen Strophen des
Lecha Dodi
beigebracht – des Liedes, mit dem man die »Braut Schabbat« abholt. Wir lernen von unserer israelischen Religionslehrerin jahrelang Hebräisch, wenngleich es sich nicht als aktive Sprache festigen will, dazu die biblischen Erzählungen und später die antike jüdische Geschichte. Doch ich kann daraus keine Einsichten für meine Gegenwart in Deutschland ableiten – keine Antworten auf meine Fragen, warum die
Schoa
geschehen ist, warum nicht der Messias, sondern die säkularen Zionisten Israel gegründet haben und wie man
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