Wie ich Rabbinerin wurde
Generation der gemeinsam erlebte Abgrund der
Schoa
. Doch manche sind in dieser Generation »gleicher«. Je schlimmer das Lager, desto größer die Autorität. Die meisten Gemeindevorsitzenden haben Auschwitz überlebt – der Hamburger Gemeindevorsitzende Günter Singer ebenso wie der Berliner Gemeindevorsitzende Heinz Galinski.
Ihre moralische Autorität ist für uns Jüngere selbstverständlich. Sie ist notwendig, um die Deutschen mit ihrer Verantwortung für die Verbrechen zu konfrontieren. Es ist dabei für uns Jüngere nicht verwunderlich, dass so gut wie alle Vorsitzenden »deutsche Juden« sind, das heißt die Sprache der Behörden und Politiker beherrschen. Wir bemerken keinen Widerspruch. Im Gegensatz zu uns kennen diese Vorsitzenden noch ein Deutschland, an das man vor vielen Jahren einmal geglaubt hat. Wissentlich oder unbewusst bauen sie mit der einst betrogenen Vision die neuen Gemeinden wieder auf. Es soll Jahrzehnte dauern, bis man sich eingesteht, keine »Abwicklungs-« oder »Liquidationsgemeinde« zu sein, sondern die institutionellen Strukturen des untergegangenen »deutschen Judentums« wiederhergestellt zu haben – freilich für eine andere Mitgliederzusammensetzung, die sich inhaltlich nicht mehr auf die untergegangenen Judentümer Europas bezieht.
Im Düsseldorfer Jugendzentrum ist von deutschem oder mittel- und osteuropäischem Judentum keine Rede. Wir gehörengleichermaßen dem jüdischen Volk an. Das gemeinschaftsbildende Element ist dabei unser Blick nach Israel. Mit ihm treten wir aus dem Schatten der
Schoa
und identifizieren uns mit Juden, die keine »Opfer« sind. Über die Nazizeit sprechen wir wenig – und wenn, dann nur in einer Weise, die unterstreicht, dass wir dem jüdischen Volk und keinem anderen angehören – schon gar nicht dem Volk der Mörder. Wir erwähnen allenfalls beiläufig, in welchen Ländern unsere Eltern vor der
Schoa
gelebt haben. In unserer Orientierung an Israel wird unsere Herkunft, werden auch die Völker, unter denen unsere Vorfahren gelebt haben, unwichtig. Wir sind alle gleichermaßen Juden. Denn jeder von uns könnte nach Israel auswandern.
Doch nicht nur in unserer Orientierung an Israel verschwimmen die Unterschiede unserer Herkunft. Neben dem »simulierten Israel« gibt es noch ein anderes Identität stiftendes Element: den Gebrauch von jiddischen Wörtern.
Jiddisch beherrscht kaum jemand unter uns aktiv – wenngleich mehrere ihre Eltern noch Jiddisch haben sprechen hören. Trotzdem benutzen wir jiddische Worte wie
nebbich
oder
gor nischt
, wenden im Deutschen die doppelte Verneinung des Jiddischen an, »jiddeln« bisweilen in der Aussprache und tun so, als ob die Sprache unser Fleisch und Blut sei. Ich eigne mir Jiddisch durch die Schallplatten der
Barry Sisters
an, die Lilo sammelt – Schnulzen wie
A jiddische Mame, Main Glik
oder
Tumba Lalaika
, die, vom berühmten amerikanischen Schwesternduo süßlich gesungen, begleitet von einer Big Band, zu großen Hits werden.
Israel hat sich für das moderne Hebräisch entschieden, nicht für Jiddisch. In dem Klischee-Jiddisch, das wir Jugendlichen gleichermaßen beherrschen, verwischt sich die unterschiedliche Beziehung der Eltern sowohl zur jiddischen als auch zur deutschen Sprache. In Wahrheit reicht der Begriff »DPs« nicht aus, um die Überlebenden aus Mittel- und Osteuropa zu benennen. Die Juden aus Polen, aus Litauen und seinem »Jerusalem des Nordens«, Wilna, aus Galizien und dem heutigen Weißrussland,aus Bessarabien und Teilen Rumäniens haben ein Jiddisch mitgebracht, aus dem die einstige Blüte eines kulturellen, politischen sowie religiösen Selbstbewusstseins spricht. Hingegen haben die Juden aus Lettland, aus der Tschechoslowakei, aus Teilen der heutigen Westukraine, vor allem der Bukowina und ihrer Hauptstadt Tschernowitz, ja sogar aus Ungarn und mitunter aus Rumänien ein eloquentes, melodisches Deutsch mitgebracht. In ihm klingt die Liebe zu einer Kultursprache durch, die zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik längst nicht mehr gesprochen wird. Die Linien zwischen den Jiddisch und den Deutsch sprechenden Juden des einstigen Mitteleuropas sind in der Düsseldorfer Gemeinde durchaus wahrnehmbar, etwa wenn ehemalige Tschernowitzer etwas hochnäsig ankündigen, nicht zum »jiddischen Literaturabend« zu gehen, »weil wir da sowieso nichts verstehen«.
Wenn wir Jugendlichen unser Deutsch mit jiddischen Wörtern anreichern, hat dies jedoch eine eigene Funktion. Es macht unser
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