Wie ich Rabbinerin wurde
1892,
Midrasch
-Sammlungen von Emanuel bin Gorion, gedruckt 1916, rabbinische Kommentare zu Talmudtraktaten, die vor der
Schoa
erschienen sind, darunter auch die »hellenistischen« Analysen des Orientalisten Jakob Fromer, die ihn 1906 seinen Posten als Chefbibliothekar in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin kosten, eine lose Blättersammlung von einem Vergleich zwischen talmudischem und römischem Recht, der 1938 in Wien erscheinen soll, jedoch wahrscheinlich wegen des »Anschlusses« nicht mehr gebunden werden kann, der größte Teil der Schocken-Bücher, die zwischen 1933 und 1939 in Berlin erscheinen und in denen sich in Autoren wie Franz Rosenzweig, Martin Buber oder Gershom Scholem noch einmal alles aufbäumt, was der große Geist des deutschen Judentums vor der
Schoa
zu bieten hat.
In meinen eigens für Lilos Bücher angeschafften Ikea-Regalen wächst mit jedem Buch, das ich auspacke, eine kleine rabbinische Bibliothek heran – eine Bibliothek, die ganz aus dem Geist des deutschen Judentums vor der
Schoa
lebt. Nur der geringste Teil sind Bücher über die N S-Zeit , der größte sind Bücher über jüdische Religion, Philosophie und Geschichte.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass Lilo sie gelesen hat. In manchen Bänden sehe ich ein Lesezeichen auf einer der ersten Seiten. Aber ich kann mir gut vorstellen, wie sie – die passionierte Sammlerin – diese Bücher gesammelt hat, wie sie in Antiquariaten, deren Inhaber möglicherweise gar nicht wissen, was sie zwischen anderen verstaubten Bänden stehen haben, den Preis herunterhandelt und das Buch von seiner ahnungslosen Umgebung erlöst. Sie hat die Bücher bestimmt nicht gelesen. Das hätte ich gemerkt. Aber sie hat sie gesammelt. Und ich würde sie lesen.
Das ist Lilos Vermächtnis an mich.
Kurz darauf schlage ich die Stelle im
Tanach
auf, an der meine Freundinnen und ich in Hamburg aufgehört haben. Jetzt besitze ich eine Handbibliothek mit Kommentaren und historischen Analysen. Mein Hebräisch ist inzwischen ausreichend, um alleine weiterlesen zu können. Es entsteht, was ich in denfolgenden Jahren »meinen Schabbat« nenne: Jeden Freitagabend zünde ich die Schabbatkerzen an, womit sich meine Wohnung in einen kleinen »Lerntempel« verwandelt. Auf dem Tisch steht das Glas Wein, dazu der aufgeschlagene
Tanach
, das unverzichtbare Wörterbuch Hebräisch-Deutsch, Kommentare und andere Sekundärliteratur zum Thema. Ich lese und übersetze so viel, wie ich Lust habe und aufzunehmen vermag. Wenn mir danach ist, gehe ich manchmal mit meinem
Tanach
auch in ein Café, breite Wörterbuch und Papier auf dem Cafétisch aus und trinke das Glas Wein dort. Am Freitagabend entsteht eine Liste mit neuen Wörtern. Am Samstagmorgen lerne ich zunächst die »Vokabeln«. Dann lese ich den biblischen Text laut und wiederhole ihn so lange, bis mir das Hebräisch flüssig über die Lippen kommt und ich alles, ohne noch nachdenken zu müssen, verstehe. Sodann lese ich den Rest des Wochenendes alles, was ich zu dem jeweiligen Tora-Wochenabschnitt in den Büchern finden kann, und schreibe zum Schluss meinen eigenen Kommentar dazu. So entstehen über die Monate und Jahre dicke Kladden mit Notizen und Gedanken zu den Texten in der Hebräischen Bibel. Sie sind bis heute das Fundament, auf dem ich stehe – ich habe es mir völlig frei, ohne Vorgaben von Lehrern und ohne berufliche Ziele, erschlossen:
tora lischma
– Tora um ihrer selbst willen.
So lebe ich zunehmend zweischienig. Eine säkulare Arbeitswoche im Journalismus, dann das Schabbat-Intervall in der Welt der Hebräischen Bibel. Doch der Schabbat weitet sich aus.
Im ersten Jahr nach Lilos Tod macht sich meine allmähliche Veränderung auch für andere bemerkbar. Einen Freund, der depressiv gestimmt ist und in nichts noch einen Sinn erkennt, lade ich ein, um zusammen das Buch
Kohelet
(Prediger) zu lesen. Schon König Salomo kennt Zeiten, in denen man an allem zweifelt und verzweifelt. Im Vorfeld unseres Treffens übersetze und kommentiere ich den Text. Wir stellen fest, dass man mit den Inhalten der Bibel auch therapieren kann. Mit einer Freundin, die fasziniert von Lion Feuchtwangers
Die Jüdin von Toledo
ist, lese ich das
Schir Haschirim
(Hohelied Salomos). Ich bekomme eine Ahnung davon, welch wichtige Rolle ein aktiver weiblicher Eros im Judentum spielt. Er liegt bereits in der Bibel verankert. An
Jom Kippur
gehe ich, wie auch in den vergangenen Jahren, außer zu
Kol Nidre
nicht in die Synagoge – nicht
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