Wie ich Rabbinerin wurde
Bundesrepublik Deutschland in der DDR bekommen. Am Abend der Eröffnung fahre ich über die Grenze in den Ostteil der Stadt und treffe meine Eltern in der Ausstellung. Konrad ist auf einem Höhepunkt seiner künstlerischen Karriere. In Anbetracht seiner terminlichen Vorgaben, die sich in erster Linie an der Ausstellung orientieren, und Lilos Stimmung, in der sie geradezu quälend hauptsächlich von ihren Krankheiten redet, ohne jedoch deren Genesung anzustreben, will ich es plötzlich zu keiner Verabredung mehr in Westberlinkommen lassen und fahre noch vor Ende des Abends wieder zurück auf die andere Seite. Von da an herrscht nur noch spärlicher Kontakt zwischen meinen Eltern und mir.
Lilos plötzlicher Anruf vor meiner Spanienreise wendet das Blatt jedoch noch einmal. So kommt es zu dieser letzten Begegnung in Düsseldorf.
Lilo reißt sich während dieser zwei Tage zusammen, spricht mir zuliebe und vielleicht auch wegen der Anwesenheit der Freundin nicht von ihren Schmerzen, von denen ich ohnehin nichts mehr wissen will. In dieser vollkommenen Selbstbeherrschung kommt jene Lilo zum Vorschein, auf die ich stolz bin: geistreich, mehrere Sprachen sprechend, mit einem künstlerischen Blick begabt, warmherzig und sehr viel Empathie verströmend. Bei unserem Abschied nehmen wir uns für einen langen Moment in den Arm und versichern wir uns, wie lieb wir einander haben.
In Spanien halte ich mich nirgends lange auf, fahre mit dem Auto durch Andalusien und übernachte an den verschiedenen Stationen meiner Reise. In der Brandnacht befinde ich mich in einem Dorf am Meer. Ich kann in dieser Nacht nicht schlafen. Die Straßengeräusche mischen sich turbulent in mein aufgewühltes Halbwachen. Am nächsten Morgen auf dem Weg zum Strand bleibe ich an einem Brunnen stehen. Die letzten liebevollen Augenblicke mit Lilo wirken noch nach. Ich empfinde plötzlich eine heftige Sehnsucht nach ihr. Wie in einer Vorahnung, was in den kommenden Jahren geschehen würde, sage ich auf einmal laut: »Jetzt kann ich endlich meine Mutter annehmen«, und spüre, wie dabei ein Teil von ihr in mir zum Leben kommt.
Erst als ich von meiner Spanienreise zurück in Berlin bin, erfahre ich von Lilos Tod in der Zwischenzeit. Die Beerdigung hat längst stattgefunden. 400 Menschen haben daran teilgenommen. »Deine Mutter war eine ganz wunderbare Frau«, würde mir Rabbiner Peter Levinson später sagen: »Man konnte sich phantastisch mit ihr unterhalten. Sie war unendlich anregend.« Und der Halbbruder meines Großvaters, »Onkel Ludi«, der in New York lebt und den Lilo regelmäßig dort besucht hat,sagt mir später: »Die Lilo war eine richtige
Neschome
(jüdische Seele) – immer lebensbejahend und aktiv.« Bis heute spiegelt sich Lilos Empathie in den Menschen wider, die sie geliebt haben – die alten jüdischen Damen aus Tschernowitz, Budapest oder Wilna, mit denen sie auf der Frauengalerie in der Düsseldorfer Synagoge die Reihe geteilt hat, die jüdischen und nichtjüdischen Künstler, mit denen sie nicht nur endlos lange Telefonate geführt, sondern sich auch gern zu einem Glas Sherry schon am Vormittag getroffen hat, die Putzfrau, der Gemüsehändler, die Friseurin, der sie, »um mal was anderes zu lesen«, einen Roman von Isaac Bashevis Singer geschenkt hat, und die niederländische Gärtnersfrau, die nach Lilos Tod Trauergedichte an die verlorene Freundin schreibt. Ich weiß um diese Lilo, aber als ihre Tochter habe ich meist nur ihre zerstörte Seite erlebt. Und so liegt eine eigene Symbolik darin, dass ich nicht bei ihrer Beerdigung anwesend bin, sondern zwei Wochen später alleine an ihrem Grab stehe. Sie ist 53 Jahre alt geworden, ich bin zu diesem Zeitpunkt 24.
Ein Jahr zuvor ist Konrads Mutter, Anna, gestorben. Von ihr habe ich einige philosophische Bücher geerbt. Konrad beschließt, dass ich auch Lilos Bücher erben soll. David, mein Bruder, erhält Lilos Sammlung jüdischer Kultgegenstände, alte Toraschilder und -zeiger,
Besamim -Dosen
,
Chanukka
-Leuchter und Schabbatkerzenhalter.
Ich kenne Lilos Bücherschrank seit jener Szene in meiner Kindheit, als sie mir die Bilder von den Ghettos und Konzentrationslagern gezeigt hat. Genau diese Bücher erwarte ich jetzt auch in den sechs großen Umzugskartons, die Konrad nach Berlin schickt.
Doch beim Auspacken halte ich plötzlich Bücher in der Hand, die ich noch nie zuvor in Lilos Bücherschrank wahrgenommen habe: ein Talmud-Tora-Lexikon aus dem Jahr
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