Wie ich Rabbinerin wurde
einmal zu
Jiskor
, wo ich Lilo hätte gedenken können. Doch ich lese und kommentiere in gewohnter Manier zu Hause das Buch
Jona
. Dieses wird üblicherweise am Nachmittag des
Jom Kippur
vorgetragen. Im Anschluss an die Lektüre spreche ich ein
Kaddisch
für Lilo. Zu
Pessach
lade ich ein Dutzend Leute ein. In den Tagen zuvor habe ich die
Hagada
übersetzt und kommentiert. Inzwischen bin ich selbstsicher genug, den
Seder
zu leiten und ihn mit provozierenden weiteren Texten zusätzlich intellektuell anzuheizen. So füge ich in die
Hagada
Passagen aus Sigmund Freuds
Der Mann Moses und die monotheistische Religion
ein.
Nach dem Volontariat beim
Tagesspiegel
werde ich 1988 Redakteurin in der Berlinredaktion der
taz
(
die tageszeitung
).
Viele Juden fragen mich, wie ich für eine Zeitung arbeiten könne, die täglich ein verzerrtes und propagandistisches Bild vom Nahostkonflikt herstellt, in dem die Israelis mit sturer Regelmäßigkeit »Täter« und die Palästinenser »Opfer« sind. Dieser Einwand ist zwar richtig. Was mich aber trotzdem anzieht, ist die Chance, aus einem jüdischen Blickwinkel eine politische Position zu entfalten – nicht in Bezug auf Israel, sondern auf Deutschland.
Gleich zu Anfang stelle ich gegenüber den anderen Redakteuren klar, dass ich keine Artikel über den Antisemitismus oder über Veranstaltungen zum Gedenken an die Opfer der
Schoa
schreiben werde. Das sei vielmehr ihre Aufgabe, da der Antisemitismus nicht primär das Problem der Juden ist, sondern das der deutschen Gesellschaft. Ebenso verwahre ich mich dagegen, dass sie die Berichterstattung über Gedenkveranstaltungen auf die einzige Jüdin in der Redaktion abschieben, da auf mir – wie auf allen Juden in Deutschland – ohnehinschon die psychische Bürde der täglich nachwirkenden N S-Geschichte lastet. Mein Beharren, dass vielmehr die nichtjüdischen Redakteure in der Verantwortung stehen, wenigstens journalistisch dem Gedenken an die Opfer gerecht zu werden, wird von meinen Kollegen nicht nur akzeptiert, sondern zustimmend bestätigt. Ich brauche keinen einzigen Artikel zu diesen Themen zu schreiben. Während meiner Zeit ereilt die
taz
außerdem eine intensive Debatte über die Grenzen stilistischer Freiheit. Ein Journalist hat in einem Artikel eine Diskothek als »gaskammernvoll« bezeichnet. Wochenlang erscheinen Diskussionsbeiträge über journalistisches Ethos angesichts der historischen Verantwortung. Die beiden Redakteurinnen, die die skandalöse Formulierung haben durchgehen lassen und sie bis zuletzt verteidigen, werden am Ende entlassen. Der Ernst der Debatte beeindruckt mich und gleicht etwas von meinem Unbehagen über die Israel-Berichterstattung aus.
Ich wähle ein ganz anderes Feld. Es sind die in Berlin lebenden ausländischen Minderheiten, die Immigranten und Asylbewerber. Da die
taz
von einem Deutschland als toleranter Einwanderergesellschaft träumt und diese herbeizuschreiben versucht, erkenne ich hier eine Art politisches Zuhause für mich und dabei größere journalistische Freiräume als in anderen deutschen Tageszeitungen. Der Kampf gegen Diskriminierung und für gleiche Rechte, das notwendige Umdenken der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die ihre Staatsbürgerschaft immer noch mit Vorstellungen von einem homogenen Volk verbindet, sowie die verschiedenen kulturellen Einflüsse der Immigranten, die das Selbstverständnis Berlins verändern – in all dem klingt viel von den politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen der jüdischen Diaspora an. So wird meine Zeit in der
taz
zu einem spannenden ersten Versuch, eine politische Position als bewusste Diasporajüdin zu entwickeln – freilich nicht anhand der eigenen, jüdischen Leute, sondern eines Mediums: der Immigranten und Flüchtlinge, die in der politischen Gegenwart Berlins täglich neue Themen und Geschichten hervorbringen.
Sehr schnell stoße ich an eine Grenze – eine andere jedoch, als ich erwartet habe. Der erste Eklat geschieht, als ich über eine Kirchenbesetzung von jugendlichen Asylbewerbern aus Bangladesch berichte. Vor Ort treffe ich zunächst verschiedene Deutsche an – Aktivisten in Berliner Flüchtlingshilfen und Asylberatungsstellen. Sie empfangen mich mit einer Presseerklärung gegen die drohende Abschiebung der Betroffenen und Statements gegen die restriktive Asylpolitik des Berliner CD U-Senates . Derweil spielen die jugendlichen Bangladeschi Fußball im hinter der Kirche gelegenen Garten. Der Pfarrer serviert Snacks und
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