Wie ich Rabbinerin wurde
Zitat. Ich weiß nicht, ob dahinter Achtlosigkeit oder aber böser Wille steckt. Jedenfalls fühle ich mich plötzlich schutzlos, was mit dazu beiträgt, dass ich nach etwa einem Jahr bei der
taz
wieder aufhöre.
In dieser Zeit trennt sich mein damaliger, nichtjüdischer Freund von mir. Er bezeichnet sich als »Agnostiker«. Religionen hält er für »Sekten«. Für meine Auseinandersetzung mit dem Judentum fehlt ihm das Verständnis. Aber auch meine Konflikte in der
taz
rufen in ihm immer größeren Widerwillen hervor. Ein Streit zwischen uns entzündet sich an einem gemeinsamen indonesischen Bekannten. Mein Freund nennt diesen konsequent einen »Deutschen«, der schon mehr als ein Jahrzehnt in Berlin lebt. Ich wende ein, dass der Bekannte auch seine eigene Kultur mitgebracht habe, die man nicht verdrängen solle. Meinem Freund platzt plötzlich der Kragen. »Du hast ein Problem. Aber dein Problem ist
dein
Problem – und nicht das der anderen.« »In der Tat«, entgegne ich, »ich habe einen jüdischen Blickwinkel: Nicht alle müssen zu ›Zwangsdeutschen‹ werden.« Entnervt erwidert er: »Dann sag mir mal bitte, was an dir jüdisch ist!?«
Der Streit, dem bald darauf die Trennung folgt, gibt mir einen entscheidenden Anstoß. Unversehens bin ich auf mich selbst zurückgeworfen. Bei meiner Arbeit in der
taz
habe ich versucht, einen jüdischen Blickwinkel mit gesellschaftspolitischen Inhalten zu füllen, ohne jedoch das Jüdische selbst zu benennen. Dieser Versuch ist gescheitert. Ich bin in einem Dickicht von Immigranteninitiativen, Asylaktivisten, Ausländerpolitikern sowie den sich abzeichnenden Morasten der multikulturellen Gesellschaft gelandet. Warum habe ich nicht gleich versucht, einen Standpunkt zu formulieren, der sich von vornherein anhand von jüdischen Anliegen zu erkennen gibt? Natürlich nicht einer, der sich erst beim Antisemitismus und Antiisraelismus zu Wort meldet, und auch nicht einer, der nur auf den Nahostkonflikt fokussiert – sondern einer, der originär aus einem positiven Judentum heraus in die allgemeine Gesellschaft, hier in Berlin, in Deutschland hineinwirkt und diese mitgestaltet. Woran würde ich ihn festmachen? Woraus würde ich meine Argumente schöpfen?
4. Deutsches Judentum
M ein erstes »deutsch-jüdisches« Erlebnis habe ich kurz nach Lilos Tod, als ich zum ersten Mal ihren »Onkel Ludi« in New York besuche. Ludi – das ist Ludwig Boettigheimer, der rechtzeitig mit seiner Frau Marianne Frankfurt verlassen hat. Zusammen mit anderen deutsch-jüdischen Emigranten gründet er 1939 eine Reformgemeinde in Manhattan:
Congregation Habonim
(»Die Erbauer«). Lilo besucht ihren Onkel jedes Jahr. Ich kenne ihn nur durch die Geschenke, die Lilo mitbringt. Meist sind es Gegenstände, die mit Musik zu tun haben, zum Beispiel eine schicke Tasche mit aufgedruckten Noten von Mozarts
Kleiner Nachtmusik
. Ludi geht fast jeden Abend ins Konzert. Als Rentner erhält er ermäßigte Eintrittskarten und weiß überdies, wo gratis gute Konzerte gespielt werden. Jedes Mal kommt Lilo voller Geschichten von Konzerten, in die Ludi sie hineingeschleust hat, aus New York zurück – in die »Met«, in das Open-Air-Konzert im Central Park, in Generalproben oder in Aufführungen von Studenten. Von einer ihrer Reisen nach New York bringt sie jedoch ein Büchlein mit dem Stammbaum ihrer Familie und einen
Sidur
mit, der in der
Congregation Habonim
benutzt wird. Vorne steht eine Widmung für Lilo vom Rabbiner und seiner Frau: Bernie und Miriam Cohn.
Es ist ein »Reform-
Sidur
«. Er enthält die typischen Veränderungen, die liberale Rabbiner in Deutschland im 19. Jahrhundert beschlossen haben. Das Primat haben die ethischen Prinzipien vor den kultischen Gesetzen. Passagen, die den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels und die Rückkehr zum Opferkult wünschen, sind ausgelassen. Als Lilo mir den
Sidur
zeigt, beschließe ich spontan, einen Artikel über das Reformjudentumfür die Studentenzeitschrift des BJSD zu schreiben. Da kommt es zu einer merkwürdigen Szene: Lilo sieht mich entgeistert an, beschwört mich vehement, nicht unbedarft ein Feld zu betreten, das ich ihrer Meinung nach nicht ermessen könne; ich entgegne, dass ich wahrscheinlich nur abschreiben werde, was ohnehin in Büchern steht. Sie bricht in Tränen aus. Ich würde als Uneingeweihte das Heiligtum anderer Menschen entweihen. Andere hätten jahrelang gelernt, was Reformjudentum bedeute, und seien große Gelehrte geworden –
Weitere Kostenlose Bücher