Wie ich Rabbinerin wurde
überlebt. In bereits fortgeschrittenem Alter schreibt sie ihre Doktorarbeit, die unter dem Titel
Zeitbruch
erscheint und versucht, die Lehren moderner jüdischer Religionsphilosophen wie des Kantianers Hermann Cohen oder des Existentialisten Franz Rosenzweig erneut zu aktivieren. Sie ist meine Lehrerin. Aber jetzt kann sie, die nach dem Krieg nach Israel ausgewandert ist und die vergangenen Jahrzehnte nicht unter Deutschen gelebt hat, mir nichts sagen. In einer Liebesgeschichte mit dem Sohn eines ehemaligen Nazis hat mich die Macht
Amaleks
niedergeworfen. Auf der Rückfahrt nach Berlin bin ich allein in einem Abteil. Ich ziehe die Bänke aus und lege mich quer darüber. Mehrfach versuchen Menschen in das Abteil einzutreten. Sie öffnen die Tür – und schließen sie sogleich wieder, erschrocken von den Energien, die in dem Abteil virulent sind. In mir wütet der Fluch.
Vorübergehend mag ich mich nicht mehr als Jüdin bezeichnen. Ich beginne eine neue Arbeit als Nachrichtenredakteurin des Fernsehsenders
deutsche welle tv
, erzähle dort lange niemandem,dass ich Jüdin bin. Ich will mich erleben, wer ich wäre, wenn ich keine Jüdin wäre. Wer wären dann meine Freunde? Was wären dann meine Themen und Leidenschaften? Wie würde ich den Menschen um mich herum begegnen – wie sie beurteilen?
Auch Hiob tritt aus seiner Unschuld heraus – und erhält am Ende nicht nur alles zurück, sondern wird sogar mit noch mehr gesegnet.
Als ich das verstehe, habe ich plötzlich keine Angst mehr, als Jüdin zwangsläufig immer auch potentielles Opfer zu sein. Mit meinem unverhofft angstfreien Selbstbewusstsein breitet sich ein Elixier der Stärke in mir aus. Die jüdische Religion hält nicht dazu an, die linke Wange hinzuhalten, wenn die rechte geschlagen wird. Vielmehr emanzipiert sie zu realer Stärke und Widerstandsfähigkeit, ja stellt sogar die Machtfrage. Dies alles gewinnt sie aus einer Verbindung mit Gott, durch den jeder Mensch ein heiliges Potential in sich trägt, das gelebt werden will und niemandem geopfert werden darf – das aber auch Schuld in der Welt verursacht. Es bedarf des Mutes, sich alle schuldigen und unschuldigen Triebkräfte einzugestehen und sie zum Leben zu bringen – und damit erst ins rechte Gleichgewicht.
Meine Erkenntnis schlägt sich in meinen Ansichten zur politischen Gegenwart nieder. 1990 marschiert der Irak in Kuwait ein. Die USA beginnen daraufhin den ersten Golfkrieg. In meinen linksalternativen Kreisen wird dieser Krieg durchweg verdammt. Man glaubt, einen Tyrannen wie Saddam Hussein mit Handelsembargos und diplomatischen Mitteln besänftigen zu können. Zugleich frönt man einer politisierten Ohnmachtskultur. In meinem Stadtbezirk – Schöneberg – hängen weiße Fahnen aus den Fenstern, als seien auch die Berliner von den USA angegriffen worden. Zugleich schießt der Irak Scud-Raketen auf Tel Aviv ab und droht mit Gasangriffen, um Israel zu vernichten.
Ich bin von Anfang an für den Krieg gegen Saddam Hussein, wie ich später auch den Krieg gegen die Taliban in Afghanistan und den zweiten Golfkrieg befürworte. Dies löst bei meinen Freunden heftige Debatten aus. Meine nichtjüdischen Bekannten, denen meine Einstellung mitunter unerträglich ist, versuchen meine Haltung zu relativieren, indem sie diese mit meiner vermeintlichen Angst um Israel und meine dort lebenden Verwandten »entschuldigen«. Aber ich argumentiere nicht aus einer persönlichen Angst heraus. Ich stelle vielmehr in Abrede, dass die Argumente, die ich in dieser Zeit höre, irgendetwas in einer Welt, in der das Böse immer mit vorhanden ist, ausrichten können. Sie sind nicht nur ohnmächtig, da sie das Böse verdrängen und wegschauen. Sie zwingen auch die anderen in eine Ohnmacht, indem sie den Verbrechern freie Bahn gewähren. Dabei halten sie sich fälschlicherweise für moralisch überlegen. Diese Art von »Unschuld« ist schuldhafter als jede tätige Schuld, die dem Verbrecher entgegentritt und der talmudischen Forderung nachkommt: »Wenn dich einer töten will, komme ihm zuvor und töte ihn«
(Sanhedrin 72a).
Riga – Kowno – Wilna – Memel – Königsberg – Warschau – Lodsch – Krakau – Lemberg – Brody – Pressburg – Prag – Budapest – Tschernowitz – Kischinew – Odessa: Als Journalistin fahre ich in der ersten Häfte der 90er Jahre kreuz und quer durch die Mitte des Kontinents.
Schon bei meiner ersten Ankunft 1991 in Riga erlebe ich das
Déjà
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