Wie ich Rabbinerin wurde
Abrahams.
Amalek
ist also ein Verwandter der Israeliten.
Esau, der Sohn des Isaak und Bruder des Jakob, kennt den monotheistischen Gott. Sein Sohn Eliphas trägt noch Gott (
El
) in seinem Namen. Doch Esau ist um sein Erstgeburtsrecht betrogen und gehört nicht mehr zur erbberechtigten Linie der Familie. Sein Enkel
Amalek
wird die Schmach rächen – eine doppelte Schmach: die Verdrängung des Großvaters Esau sowiedie eigene illegitime Geburt, die
Amalek
erneut von der Erbberechtigung ausschließt.
Als die Israeliten bei Refidim hinterrücks überfallen werden, kennen sie
Amalek
nicht – aber
Amalek
kennt sie. Und so weiß
Amalek
in jeder Generation um die Juden – aber die Juden wissen nicht um
Amalek
, den ausgestoßenen Cousin.
Beim
Seder
heben wir das Glas Wein und singen:
Wehi sche’amda lawotejnu welanu …
Und das erhielt unsere Vorfahren und uns aufrecht, denn nicht etwa nur Einer erhob sich, uns zu verderben, sondern in jedem Zeitalter stand man wider uns auf, um uns zu vernichten, und der Heilige, gelobt sei er, rettet uns aus ihrer Hand.
In jeder Generation steht
Amalek
von neuem auf.
Doch der Ursprung
Amaleks
reicht noch weiter zurück. So wie Gott bereits vor der Erschaffung des Menschen den Baum mit den verbotenen Früchten im Garten Eden gepflanzt hat, so hat er
Amalek
einen Platz im Lande Kanaan gegeben. Die
Sde Ha’amaleki
(die »Felder des Amalek«) gibt es in der Hebräischen Bibel bereits, als noch nicht einmal
Amaleks
Großvater Esau geboren ist
(Gn. 14:7).
Der
Midrasch
sagt, dass
Amalek
nur mit Gottesfurcht zu besiegen sei. Aber diese Gottesfurcht ist kein lammfrommes Sich-Ergeben in das eigene Schicksal.
Amalek
zu bezwingen verlangt, »schuldfähig« zu werden – den Bereich der Unschuld zu verlassen und ein Recht auf Stärke zu beanspruchen.
Esther besiegt
Amalek
, indem sie sich von einem liebreizenden Haremsmädchen zu einer politisch handelnden Königin emanzipiert. Bevor sie den entscheidenden Schritt tut, fastet sie drei Tage – enthält sich aller Materialität und stellt sich auf einen geistigen Krieg ein. Die Geschichte nimmt einen brutalen Ausgang. Am Ende hängt Haman am Galgen. Mordechai,der Onkel Esthers, wird Königsberater. Esther erlässt eigene Dekrete. Die Juden emanzipieren sich von einer verachteten Minderheit zu einer politischen Macht.
Ich löse das »Gedächtnis
Amaleks
« auf, indem ich den ursprünglich kleinen
Amalek
aufnehme, aber dem aufgeblasenen großen
Amalek
entgegentrete. In dieser Zeit mache ich mich vollständig von der Identität der »zweiten Generation« frei. Am Institut für Judaistik lerne ich die erforderlichen Grundlagen. Es ist Niko Oswald, der mir Aramäisch beibringt, Professor Peter Schäfer, der mir einen systematischen Einstieg in die
Mischna
, die älteste Schicht des Talmud, weist, und Professor Michael Brocke, der mich in die Kommentare Raschis zur Hebräischen Bibel einführt. Vorübergehend ist Moshe Dick aus New York als orthodoxer Berliner Gemeinderabbiner angestellt. Er fällt mit seinem aufgeschlossenen und modernen Verhalten sofort aus dem Rahmen und wird deshalb auch schnell wieder entlassen. Die wenigen Monate, die er in Berlin lebt, geben mir dennoch entscheidende Impulse. Mit ihm zusammen lese ich mehrere
Gemara -Ab schnitte
im Original aus dem Talmudtraktat
Sanhedrin
. Es ist das Traktat, das die politischen Gesetze des Judentums diskutiert.
Diese ersten Auseinandersetzungen mit der rabbinischen Originalliteratur zeigen mir, wie politisch der Talmud ist – wie er eben keine Religion entwickelt, die sich vom »schmutzigen politischen Geschäft« abwendet, um sich rein und lauter den himmlischen Sphären zuzuwenden, sondern umgekehrt eine tätige Ethik formuliert, die konkret und dabei heiligend auf eine niemals reine und heile Gegenwart einwirkt.
Aber wie tief vergraben liegen die politischen Inhalte des Judentums in Deutschland! Wie sehr hat sich das jüdische Religionsverständnis den Forderungen der Mehrheitsgesellschaft angepasst, nach denen Religion nur eine Privatsache innerhalb der eigenen vier Wände sein darf! Wie sehr verzichten Juden auf die politischen Folgen ihres kollektiven Selbstverständnisses – um bloß nicht die wahnwitzigen Beschuldigungen von der jüdischen Weltverschwörung zu provozieren. Wie sehr beschränkensich Juden auf das Mahnen gegen den Antisemitismus und schreiben damit ihre passive Opferrolle fest!
Parallel zum Judaistikstudium lese ich in einer Gruppe
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