Wie ich Rabbinerin wurde
mit zwei jüdischen und zwei nichtjüdischen Freundinnen die Werke Hannah Arendts. Ich folge Arendts Forderung, dass sich die europäischen Juden selbstkritisch ihrer Geschichte stellen müssen, vor allem ihrer jahrhundertelangen politischen Passivität, die die Verantwortung den anderen überlässt. Die Arendt-Lektüre veranlasst mich zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus, der deutschen Romantik und dem deutschen Existentialismus – in ihren jeweiligen Einstellungen zum Judentum. In der Tendenz kommt immer wieder dasselbe heraus: Das Judentum als Gesetzesreligion reibt sich mit der christlich gefärbten Innerlichkeit, die auch in diesen Philosophien enthalten ist. Ihr universalistisches Anliegen, alle Menschen zu Brüdern zu machen, schlägt leicht in eine aggresive Vereinnahmung um. Das Judentum – zumal als Gesetzesreligion, die eine andere Geisteshaltung und eine andere religiöse Mentalität als die der Mehrheitsgesellschaft hervorbringt – stört in diesem Universalismus und wird als rückständiger Partikularismus entwertet.
Mich enttäuscht jedoch, dass Arendt, wenn es um die Theorie politischer Freiheit und politischen Handelns geht, allein aus den griechischen und römischen Quellen schöpft und im Talmud keine Inspiration vermutet. Erst Jahre später, als Rabbinatsstudentin, würde ich die Werke jüdischer Politologen und politischer Philosophen wie Daniel Elazar oder Michael Walzer, wie Jacob Neusner oder David Novak entdecken, die eine spezifisch jüdisch-politische Theorie aus der antiken und späteren rabbinischen Literatur ableiten. Sie verstehen den »radikalen jüdischen Partikularismus« als das eigentliche Angebot an die Menschheit. Dabei bedeutet »Schalom« nicht einen alle Menschen verschmelzenden »Frieden«, sondern eine »Fülle«, in der die unterschiedlichen Heilsgeschichten der Menschen und Nationen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen zu einer vollen Geltung kommen.
Mein Versuch, die
Schoa
auf eine Weise zu begreifen, die mir hilft, die lähmenden und mitunter selbstzerstörerischen Nachwirkungen der Katastrophe zu überwinden, führt mich auch in das Buch
Hiob
. Hiob, der Schuldloseste unter den Schuldlosen, der Gerechteste unter den Gerechten, verliert alles – seine Ehre, seinen Wohlstand, seine Familie und seine körperliche Unversehrtheit – durch eine Wette des
Satan
mit Gott. Meine Deutung des Buches konzentriert sich auf Hiobs anfängliches Beharren auf seiner Schuldlosigkeit, die in seinem Festhalten an der Gerechtigkeit gründet.
Beim lebendigen Gotte, der mein Recht mir entzogen, und beim Allmächtigen, der meine Seele betrübt hat. So lange Odem in mir ist, und der Hauch Gottes in meiner Nase, sollen meine Lippen kein Unrecht reden, und meine Zunge kein Unrecht aussprechen. Fern sei es von mir, dass ich euch Recht gebe; bis ich verscheide, lasse ich meine Unschuld mir nicht nehmen. Fest halte ich an meiner Gerechtigkeit, und lasse nicht von ihr, es schmähet mein Herz keinen meiner Tage.
(27:2 – 6)
Hiob hält sich für gerechter als Gott – denn er beachtet alle Gebote, während Gott zynische Wetten mit dem
Satan
schließt:
Wisset denn, dass Gott mir Unrecht getan, und mit seinem Netze mich umstellt hat. Siehe, ich schreie über Gewalt und mir wird nicht geantwortet; ich rufe, da ist kein Recht. Meinen Pfad hat er verzäunt, dass ich nicht weiter kann; und auf meine Steige hat er Finsternis gelegt.
(19:6 – 8)
Will er durch Fülle der Kraft mit mir rechten? Nicht er, für wahr, wird solches auf mich legen. Dort, schlicht mit ihm rechtend, entkäme ich siegend meinem Richter.
(23:6 – 7)
Indem Hiob seine Gerechtigkeit allem erhaben glaubt, provoziert er Gott.
Hältst du das für Recht, sprichst du: meine Gerechtigkeit ist über Gottes?
(35:2)
Wie Jakob mit dem Engel gekämpft hat, fordert Gott Hiob zum Kampf heraus:
Gürte doch, wie ein Mann, deine Lenden, und ich will dich fragen, und du belehre mich: Immer noch brichst du meinen Rechtsspruch? Zeihst du mich des Unrechts, auf dass du gerecht seist?
(40:7 – 8)
In einem kathartischen Moment lasse ich Anfang der 90er Jahre die Grenze meiner vermeintlichen Schuldlosigkeit hinter mir.
Ich habe soeben Eveline Goodman-Thau in Kassel besucht, wo sie als Gastdozentin tätig ist. Eveline kommt regelmäßig aus Jerusalem nach Deutschland. Sie ist in Wien geboren und hat die
Schoa
in einem Versteck in den Niederlanden
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