Wie ich Rabbinerin wurde
wird häufig als »Bekenntnis der Einigkeit Gottes« bezeichnet. Je mehr ich jedoch eine Einstellung zur jüdischen Liturgie gewinne, desto mehr merke ich, wenn ich im
Egalitären Minjan
den Gottesdienst leite, dass das in der Praxis gesprochene
Schema
kein »Bekenntnis« oder »Glaube«, sondern eine
Handlung
ist. Sie
einigt
den Gottesnamen. Die sefardischen Juden haben hierfür eine besondere
Bracha
: »J-H in W-H zu vereinigen«, auch
Jichud Haschem
(»Einigung des heiligen Namens«) genannt. Bei einem guten Gottesdienst, der die Anwesenden durch die verschiedenen Gebetsstationen führt, geschieht die Einigung aller persönlichen Potentiale und Motivationen sowohl in einem selbst als auch mit den anderen im Raum als auch mit Gott, der in sich eins ist. Diese stets eine Gemeinschaft stiftende Richtung spiegelt sich in den anderen jüdischen Gebeten wider, die fast alle in der »Wir-« und selten nur in der »Ichform« verfasst sind. Somitdient die jüdische Liturgie keiner frommen Demut und schon gar nicht einer Unterwerfung, sondern trägt eine innere Dynamik in sich, die ein Maximum an persönlicher Entfaltung und dabei zugleich ein Maximum an gegenseitiger Anteilnahme bewirken kann, ausgedrückt in dem oft genannten Wort:
Kol Jisrael arevim se base
– »Ganz Israel sind Bürgen, der eine bürgt im anderen«.
Einige Zeit nach der Gründung des
Egalitären Minjan
entsteht in Berlin durch die Initiative von Miriam Marcus und Sigalit Meidler eine zweite »egalitäre« Gruppe: der
Gleichberechtigte Gottesdienst.
Auch hier sitzen Frauen und Männer zusammen. Im Vergleich zum
Egalitären Minjan
ist dieser Gottesdienst traditioneller, experimentiert nicht mit der Liturgie, benennt jedoch im Gebet die »Mütter« gleichberechtigt neben den »Vätern«. Hier tut sich schnell Gesa Ederberg als Vorbeterin hervor, eine Studentin der Judaistik, die wenige Jahre später in Jerusalem am »konservativen«
Solomon Schechter Institute of Jewish Studies
als Rabbinerin ordiniert wird.
Die Jüdische Gemeinde stellt sich der neuen Entwicklung nicht entgegen. Zusammen mit Sigalit Meidler besuche ich den Vorsitzenden, Jerzy Kanal, der uns Räumlichkeiten in der Gemeinde zur Verfügung stellt. Um sich gegenseitig keine Konkurrenz zu machen, zumal sich beide Gruppen hinsichtlich ihrer Mitglieder überschneiden, trifft sich der
Egalitäre Minjan
alle drei Wochen morgens zum Schabbat-Morgen, der
Gleichberechtigte Gottesdienst
einmal im Monat freitagabends zum
Kabbalat Schabbat.
Regelmäßig zum Neumond kommt überdies die
Rosch-Chodesch -Gruppe
zusammen. Ich gehöre allen Gruppen gleichzeitig an, treffe Menschen wieder, wie Ian Leveson aus der
Jüdischen Gruppe
, Moishe Waks aus der oppositionellen
Demokratischen Liste
oder verschiedene Mitglieder der in der Gemeinde sehr engagierten Familie Marcus. Genauso lerne ich neue Menschen kennen, etwa die Bildhauerin Rachel Kohn, die zugleich in der Berliner Dependance der jüdischen Hilfsorganisation
La Benevolencia
in Sarajewo aktivist, und ihren Mann, Jacky Schenavsky, der später zu den tragenden Säulen der Synagoge Oranienburger Straße gehört. Unsere egalitären Gottesdienste ziehen aber auch Förderer aus dem »Mainstream« der Gemeinde an, z. B. das amerikanische Diplomatenehepaar Carol und Joel Levy. Ebenso gestattet der Kantor der traditionellen Synagoge Rykestraße, Oljean Ingster, einen vom
Egalitären Minjan
gestalteten
Kiddusch
in »seiner« Synagoge.
Ähnliche Entwicklungen geschehen auch in anderen deutschen Städten. Schon vor dem Berliner
Egalitären Minjan
hat sich in Frankfurt am Main durch die Initiative unter anderem von Susanna Keval, Micha Brumlik, Petra Theilhaber und Doron Kiesel eine Gruppe mit dem Namen
Kehilla Chadascha
(»Neue Gemeinde«) gegründet, die ebenfalls egalitäre Gottesdienste abhält. Sie lädt Mitte 1995 zu einer historischen Tagung nach Arnoldshain ein. Dort treffen sich aus ganz Deutschland Engagierte der entstehenden jüdischen Erneuerungsbewegung. Ich lerne Menschen aus der vor nicht langer Zeit in München gegründeten Reformgemeinde
Beth Schalom
(»Haus des Friedens«) kennen, ebenso Mitglieder einer von der Heidelberger Gemeinde abgespalteten Gruppierung oder vom
Jüdischen Forum
in Köln, aus dem die liberale und unabhängige Gemeinde
Gesher LaMassoret
(»Brücke zur Tradition«) hervorgeht, oder aber Aktive aus der Jüdischen Gemeinde in Hannover, die sich bald ebenfalls abspalten und eine eigene »progressive Gemeinde«
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