Wie ich Rabbinerin wurde
errichten werden. Verschiedene Mitglieder der Gemeinden Oldenburg und Braunschweig sind gekommen, die als Einzige eine Rabbinerin haben. Die Schweizerin Bea Wyler ist unlängst am konservativen
Jewish Theological Seminary
in New York ordiniert worden und erhält als erste Frau nach der
Schoa
eine Anstellung als Gemeinderabbinerin in Deutschland. Ebenfalls anwesend ist der liberale Rabbiner Henry Brandt, der vor nicht allzu langer Zeit bei einem
Simchat-Tora
-Gottesdienst einen »Skandal« verursacht hat, weil er mit den Tora-Rollen auch zu den Frauen in der Synagoge gegangen ist.
Das alle verbindende Gesprächsthema ist die Dominanz der »nichtobservanten Orthodoxen«, womit die Mehrheit der Gemeindemitglieder gemeint ist. Zwar leben sie kaum mehr die jüdische Religion, genießen jedoch die Definitionsmacht. Sie verwahren sich einer Erneuerung, ohne selbst die althergebrachte Tradition zu praktizieren, und verursachen somit eine Erstarrung des jüdischen Lebens.
Der Schabbat-Morgengottesdienst während der Arnoldshainer Tagung soll für mich Folgen haben. Es ist mein alter Freund Andy Steiman, den ich seit dem Eklat um das Fassbinder-Stück in Frankfurt kenne, der als
Ba’al Kerija
den Tora-Abschnitt
lejnt
. Bis dahin habe ich nur selten eine Tora-Lesung in einer Synagoge erlebt, in der ich etwas vom Text verstanden hätte. In den traditionellen Synagogen habe ich stets von der Frauenempore aus beobachtet, wie sich mehrere in große
Tallitot
gehüllte Männer über das Pult beugen und einer in ihrer Mitte in einem unverständlichen und oft viel zu leise vorgetragenen Sprechgesang monoton, ohne Hervorhebungen, ja scheinbar ohne Punkt und Komma etwas aus der aufgerollten Tora vorträgt, was nur davon unterbrochen wird, dass ein anderer Mann in hebräischen Formeln nach vorne gerufen wird, wieder ein anderer dafür abtritt und man eine
Bracha
für das Fortsetzen der Lesung spricht. Diese Art von Lesung erwarte ich auch jetzt von Andy.
Doch Andy macht Fehler beim Lesen – er verspricht sich, braucht manchmal einen Moment, um ein Wort zu entziffern, und korrigiert sich. Das ist keine Kritik. Es kann an der für ihn ungewohnten Tora-Rolle liegen, an einer nur schwer lesbaren Schrift, wenn z. B. die Buchstaben zu eng aufeinander geschrieben sind. Da Andy kein Wort übergeht, nichts verschluckt oder in einem Geräuschebrei untergehen lässt, sondern sich darum bemüht, jedes Wort korrekt auszusprechen, so dass es für alle im Raum zu hören ist, verstehe ich nicht nur den gesamten Text einer Tora-Lesung, sondern denke plötzlich:
Das kannst du auch!
Ich beschließe,
Lejnen
zu lernen.
Kein perfektes
Lejnen
hätte vermocht, was Andys Versprecher und Berichtigungen vermögen.
Die Arnoldshainer Tagung endet mit dem Beschluss, eine Vereinigung zu gründen, durch die alle neuen Initiativen und Gruppierungen eine Plattform erhalten. Wenige Monate später trifft sich ein kleinerer Kreis in Göttingen, wo Eva Tichauer-Moritz Vorsitzende einer ebenfalls neu gegründeten liberalen Gemeinde ist. Auch ich nehme an dem Treffen teil. Mit Hilfe des Juristen Axel Azzola entsteht die
Vereinigung reformjüdischer und liberaler Gruppierungen und Gemeinden in Deutschland
. Der Aufbruch ist nicht nur auf Deutschland beschränkt. Ungefähr zur gleichen Zeit gründet sich in Amsterdam die Gemeinde
Beit Ha’Chidush
und in Prag
Beit Simcha.
In Wien entsteht
Or Chadash
und in Warschau
Beit Warszawa.
Über das Gründungstreffen in Göttingen legen sich jedoch auch Schatten. Sie sind eine Folge der Denominationen, die in den USA zwischen dem konservativ-liberalen und dem progressiven Reformjudentum unterscheiden. Ich selbst kann die Tragweite der Unterschiede zu diesem Zeitpunkt noch kaum ermessen. Ich weiß zwar, dass beide Richtungen »liberal« sind, dass in beiden Frauen Rabbinerinnen sein können, sich beide um eine zeitgemäße, moderne Religionspraxis bemühen und dass sich die »Konservativen« von den »Reformjuden« im 19. Jahrhundert gelöst haben, weil für sie die
Halacha
maßgeblich geblieben ist, während die Reformjuden eine universelle Ethik zum Ausgangspunkt gemacht haben. Ich hätte jedoch nicht damit gerechnet, dass die unterschiedlichen Wege, die in den USA zu Gemeinden »konservativer« oder aber »reformjüdischer« Couleur geführt haben, nunmehr eine spalterische Wirkung auf die gerade erst entstehende Erneuerungsbewegung in Deutschland entfalten würden. In Göttingen kündigen die Gemeinden Oldenburg und
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