Wie ich Rabbinerin wurde
beschreiben denn als Quelle von Leben spendenden Attributen wie »erweckend«, »Licht spendend«, »mitleidsvoll«, »gestaltend«, »gebend« oder »wegweisend«; hier werden außerdem Lebensrealitäten benannt, die für einen orthodoxen
Sidur
undenkbar wären, wie z. B. ein »Coming-out-Gebet« für Lesben und Schwule. Letzteres hält nicht nur die Betroffenen dazu an, sich selbst, so wie man ist, als ein von Gott geschaffenes Geschöpf anzuerkennen. Es appelliert an alle, sich nicht den anderen zuliebe zu verstellen.
Der Gottesdienst des
Egalitären Minjan
wird von den Mitgliedern selbst gestaltet – stets zu zweit nach einem System, das in möglichst kurzer Zeit so viel Wissen wie möglich verbreitet. Wer neu ist, muss bald selbst einen Gottesdienst leiten – jedoch zusammen mit einer Person, die das schon einmal getan hat und sich inzwischen in der Liturgie auskennt. Das verhindert, dass Menschen nur passiv teilnehmen. Auf diese Weise bekomme ich kurz darauf die Liturgie von Lara beigebracht.
Und noch etwas ist in diesem
Egalitären Minjan
grundlegend anders, als ich es von den Gottesdiensten in den Synagogen her kenne. Eigene Ideen sind gefragt. Wer ein neues Lied, eine andere Übersetzung oder überhaupt einen neuen Gedanken in die Liturgie einführen will, kann und soll dies tun. So liest uns Lara eines Tages ein Gebet der Gründerin des
Jüdischen Frauenbundes
in Deutschland, Bertha Pappenheim (1859 – 1936), vor. Das Gebet hat Pappenheim 1935, im Jahr der Nürnberger Rassegesetze, geschrieben. Als wir es hören, entsteht ein betroffenes Schweigen.
Anruf
Mein Gott, du bist kein Gott der
Weichheit, des Wortes und des Weihrauchs,
kein Gott der Vergangenheit. Ein Gott
der Allgegenwart bist du. Ein fordernder
Gott bist du mir. Du heiligst mich mit
deinem »Du sollst«; du erwartest meine
Entscheidung zwischen Gut und Böse; du
verlangst, dass ich beweise, Kraft von
deiner Kraft zu sein, zu dir hinauf
zu streben, andere mitzureißen, zu
helfen mit allem, was ich vermag.
Fordere, fordere, damit ich jeden
Atemzug meines Lebens in meinem
Gewissen fühle, es ist ein Gott.
Es ist nicht nur der dramatisch anklingende N S-Horizont , der jäh einen Nerv in uns allen trifft. Es ist auch die starke religiöse Sprache – in Deutsch. Wir bekommen plötzlich eine Ahnung davon, dass wir eine
eigene
Tradition haben, mit der wir uns verbinden können, dass wir nicht stets in die amerikanischen
Sidurim
zu schauen brauchen, sondern dass wir auf einem eigenen Boden stehen und auf diesem weitere Schritte gehen können.
Die Aussicht, von nun an regelmäßig in dieser Gruppe zu beten, ist für mich zunächst nicht frei von Ambivalenz. Ich kann durchaus beten – unfestgelegt, mit einer Mischung von vorgegebenen Texten im
Sidur
und meiner eigener Sprache. Mich auf das festgelegte Gerüst der jüdischen Liturgie einzulassen, ja sogar als »Vorbeterin« die anderen durch den Gottesdienst zu leiten und dabei die Verantwortung für das Ganze zu tragen, rührt in mir an empfindliche Grenzen. Die Tora zu lesen und aus meiner eigenen Sicht zu interpretieren ist etwas anderes – ein intellektuelles Vergnügen. Aber ein Gebet öffentlich zu sprechen, dabei die vorgesehenen Verbeugungen zu machen,also physisch das Gesprochene zu bekräftigen, bedeutet, mich in eine Sphäre zu begeben, in der ich noch durch und durch verklemmt bin und nicht im Entferntesten den aufscheinenden Funken einer Freiheit ausmachen könnte. Ich nehme an, dass alle Mitglieder des
Egalitären Minjan
auf die eine oder andere Weise mit sich gekämpft haben. Niemand von uns – zumindest der in Deutschland Geborenen – ist mit regelmäßigen jüdischen Gottesdiensten aufgewachsen. Aber ich lasse mich, wie auch die anderen, darauf ein – mit einer von irgendwoher sprechenden Einsicht, dass man irgendwo, egal wo, anknüpfen muss. Den Gottesdienst kennen wir alle, seine Liturgie ist ein allen bekannter Anhaltspunkt. Ob es beim Gottesdienst bliebe oder ob sich daraus wieder neue Wege erschlössen, würden uns die Zeit und die Praxis zeigen.
Abgesehen von vielen Liedern und Melodien lerne ich nach und nach das dialogische Prinzip des jüdischen Gottesdienstes verstehen – das »Anrufen« Gottes durch das
Barchu
(»Lasst uns segnen«) sowie die zwei nachfolgenden
Brachot
, die Gott als Schöpfer und als Quelle der Gerechtigkeit benennen, gefolgt von der »Antwort« des
Schema
: »Höre Israel,
JHWH
unser Gott,
JHWH
ist eins.« Letzteres
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