Wie ich Rabbinerin wurde
Braunschweig an, dass sie sich der neuen Vereinigung nicht anschließen werden, da sie keine offizielle Verbindung mit dem Reformjudentum eingehen wollen.
Die ersten dunklen Wolken am Horizont ziehen jedoch schon während des ersten Treffens in Arnoldshain auf. Dortmachen sich unterschiedliche Interessen bemerkbar. Einige der Anwesenden drängen auf eine rasche Institutionalisierung, durch die insbesondere ein liberales
Bet Din
in Deutschland möglich würde. Da kurz darauf die Gemeinden Oldenburg und Braunschweig mit ihrer Rabbinerin auf Distanz gehen, rückt vorläufig auch die Errichtung eines
Bet Din
in die Ferne. Darüber hinaus spielen Machtambitionen eine Rolle, die ich zunächst unterschätze. Einige wünschen sich ein Instrument, mit dem man Politik gegen das bestehende Establishment – gegen den
Zentralrat
, gegen die Institution der vom orthodoxen Judentum dominierten »Einheitsgemeinde« und gegen die Rabbinerkonferenz – machen könnte. Dadurch entsteht ein Druck, der die Entwicklung möglicherweise vorschnell in Bahnen kanalisiert, in denen eine unbefangene Diskussion darüber, wer man ist und was man will, nicht mehr möglich ist. Ich merke nicht, dass jüdische Organisationen wie die in New York ansässige Vertretung des Reformjudentums, die
World Union for Progressive Judaism
, das keimende Pflänzchen in Deutschland sehr wohl beobachten. 1997 bildet sich eine
Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz
, in der die zwei Jahre zuvor gegründete
Vereinigung reformjüdischer und liberaler Gemeinden und Gruppierungen
aufgeht. Eine große Mehrheit begrüßt diesen Schritt, der fortan eine enge Anbindung an die
World Union
bedeutet und zahlreiche Konfrontationen mit dem
Zentralrat der Juden in Deutschland
verursacht. Ein Teil kann sich jedoch nicht für das Reformjudentum entscheiden und steigt aus. Auch mir ist dies alles zu schnell gegangen. Statt dem machtpolitischen Sog der amerikanischen Denominationen zu erliegen, hätte ich mir eine längere Phase für inhaltliche Diskussionen gewünscht, in denen wir ein liberales Judentum entwickeln mit unseren eigenen Akzenten, aufgrund unserer eigenen Erfahrungen als Juden in Deutschland – und bei dem ich nicht die alten, eher orthodox eingestellten Damen aus Riga und Tschernowitz, mit denen ich auf der Frauenempore der Düsseldorfer Synagoge aufgewachsen bin, um einer modernen Ideologie willen opfern müsste.Noch vor den verschiedenen Richtungen der Religion bleibt Judentum für mich – gerade in Deutschland – in erster Linie eine Schicksals- und Solidargemeinschaft.
Die
World Union for Progressive Judaism
ist jedoch nicht die einzige Organisation, die von außen in das hiesige Geschehen hineinwirkt. Sehr viel aktiver, wenn nicht gar aggressiver verhält sich zu diesem Zeitpunkt bereits die amerikanisch-chassidische
Chabad
-Bewegung, deren Emissäre in ganz Mittel- und Osteuropa systematisch die Jugendlichen anwerben und mit ihrer
Outreach
-Philosophie schleichend die Gemeinden übernehmen. Neben ihr hat auch die
Ronald S. Lauder Foundation
angefangen, durch Finanzhilfen den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Mittel- und Osteuropa massiv zu bestimmen.
Vielleicht ist ein Wiederaufbau ohne diese Organisationen nicht möglich – das jüdische Selbstbewusstsein ist in Europa ein halbes Jahrhundert nach der
Schoa
immer noch sehr schwach. Abgesehen von dem noch nachwirkenden Trauma haben die oftmals autoritären Strukturen in den Gemeinden verhindert, dass sich ein positives jüdisches Selbstbewusstsein hätte herausbilden können. Überdies haben die wenigen liberalen Rabbiner in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig getan, um in der jüngeren Generation eine moderne Auffassung von der jüdischen Religion zu verankern. Nach wie vor stehen wir, wie ich meine, vor der Herausforderung, unsere Hausaufgaben selbst zu machen – unser Judentum in Deutschland, in Europa zu formulieren, uns auf unsere Erfahrungen und gelebten Wirklichkeiten zu beziehen und daraus jüdische Inhalte und jüdische Herausforderungen im Hier und Jetzt abzuleiten.
»Müssen Frauen dasselbe tragen wie Männer, um emanzipiert zu sein?«, frage ich selbst dann noch, als ich bereits in Micaela Weiss’ Wohnung sitze und sie vor mir ihre Kollektion von
Tallitot
ausbreitet. Micaela lacht mich aus. »So ein Quatsch. Sieh dir doch die amerikanischen Jüdinnen an. Was du brauchst, ist ein
Tallit
für Frauen – einer mit Farben, die dir stehen und zu
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