Wie ich Rabbinerin wurde
der Reihe, um Michael zur
Bima
zu folgen. »Was, du?«, fragt mich mein Nachbar. »Das ist historisch«, höre ich ihn noch hinter mir sagen, während ich schon auf dem Weg zur
Bima
bin.
Es sind höchstens zehn Meter, die ich zu gehen habe – aber ich empfinde im Zeitraffer noch einmal meinen ganzen Weg seit dem ersten Treffen meiner Hamburger »Frauen-
Jeschiwa
« in Michals Garten bis zu diesem Augenblick, da ich nunmehr an der
Bima
ankomme. Während ich die Tora aufrolle, fühle ich meinen
Tallit
auf den Schultern – nicht als ein Stück Stoff, sondern als mehrere Jahrtausende jüdischer Tradition, die jetzt auch auf meinen Schultern liegen und die ich als eine Verantwortung angenommen habe.
Bevor ich zu lesen anfange, sage ich noch ein paar Sätze. Es sei keine leichte
Parascha
. Manchmal im Leben dürfe man jedoch keine Rücksicht auf die anderen nehmen. Manchmal muss man einfach gehen – in sein eigenes Land gehen, ohne nach links und rechts zu sehen. Es gibt immer Menschen, die sich in den Weg stellen. Auf sie darf man in so einem Moment nicht hören. Wenn sie einen hindern, ist es sogar geboten, sie aus dem Sichtfeld zu vertreiben. So verstehe ich meine erste öffentlich vorgetragene
Parascha
– da auch ich heute in meinem Land ankomme.
Die erste Person wird aufgerufen. Es ist ein Bekannter aus Düsseldorf. Im Laufe der Lesung bewegen sich rechts und links von mir lauter Menschen, die mit mir das jüdische Leben der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland geteilt haben. Mein »Ankommen« geschieht in ihrer Mitte. Es sind Juden aus Frankfurt, Hannover oder Heidelberg, aus Göttingen, Köln oder München, zum Teil kenne ich sie schon seit Jahren, zum Teil erst neuerdings.
Als ich nach der Lesung zu meinem Platz zurückgehe, stehen mehrere Menschen jubelnd auf und beglückwünschen mich:
Jaschar Koach
! (»Viel Kraft!«). Mehrere Frauen haben Tränen in den Augen. Ich selbst auch. Zur Tagung ist auch Rabbiner Peter Levinson gekommen. Er sagt mir später: »Wenn dass die Lilo heute erlebt hätte. Sie würde platzen vor Stolz.«
Nach einigen Tagen erhalte ich mit der Post einen dicken Briefumschlag. Ruben Frankenstein, der im Gottesdienst neben mir gesessen hat, schickt mir mehrere Fotos von meiner Tora-Lesung. Er hat die Szene heimlich fotografiert. Es ist normalerweise untersagt, in einem Schabbat-Gottesdienst zu fotografieren. Als ich Ruben später frage, warum er das Verbot übertreten habe, sagt er: »Ich habe gesehen, dass dir dieser Moment alles bedeutet. Das wollte ich für dich festhalten.« Von den Fotos schicke ich Abzüge an verschiedene jüdische Zeitungen. Sie werden in den nächsten Monaten und Jahren immer wieder als symbolisches Bild für die Erneuerung jüdischen Lebens in Deutschland veröffentlicht.
Das Jahr 1996 wird auch mein Einstiegsjahr in das politische Gemeindegeschehen Berlins. Die Frauen der
Rosch-Chodesch- Gruppe
lesen die für
Schawuot
vorgeschriebene Lektüre: das Buch
Ruth
. Wir sind von unserer Diskussion über Frauen wie Naomi und Ruth noch ganz beflügelt, als Lara plötzlich von einer neuen Satzung für die Synagogenvorstände erzählt. Sie holt die letzte Ausgabe des Gemeindebulletins hervor, in dem die Mitteilung steht. Niemand von uns anderen liest das als »Vorstandsblatt« verpönte Bulletin, sondern wirft es meist ungeöffnet in den Papierkorb. Ohnehin sind die Mitteilungen darin uralt, weil es stets erheblicher Zeit bedarf, bis ihr Abdruck genehmigt ist. Aber Lara liest das Infoblatt – und liest uns jetzt vor, dass die Repräsentantenversammlung, das Gemeindeparlament, eine neue Satzung verabschiedet habe. Danach können in allen Berliner Synagogen nur Männer als
Gabbaim
, als Vorstandsmitglieder, gewählt werden.
Gabbaim
treffen Entscheidungen über die allgemeine Entwicklung der Synagoge und haben verschiedene Aufgaben im Gottesdienst. Sie wählen z. B. diejenigen aus, die eine
Alija
bekommen, und machen die Aufrufe.Die Repräsentantenversammlung hat schon vor Monaten für die neue Satzung abgestimmt. Die Wahlen sollen jedoch schon in wenigen Wochen stattfinden, ohne dass es dazwischen noch eine Sitzung des Gemeindeparlamentes gäbe, in der man die Satzung noch einmal ändern könnte.
Wir beschließen eine Unterschriftenaktion. Unsere Forderung ist, dass jeder Synagoge die Freiheit zugestanden werde, selbst zu entscheiden, ob nach ihrem Wahlmodus Frauen als
Gabbait
wählbar sind. Eine
Gabbait
wäre für eine orthodoxe Synagoge natürlich undenkbar.
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