Wie ich Rabbinerin wurde
Aber was ist mit Synagogen, die einen liberalen Ritus praktizieren? Immerhin ist schon 1930 Martha Ehrlich in der Synagoge Rykestraße als erste
Gabbait
in Deutschland gewählt worden und hat zu dem Zeitpunkt eine Satzung in der Berliner Gemeinde existiert, nach der – je nach Ritus der Synagoge – auch Frauen wählbar sind. Steht nicht auch die liberale Synagoge Pestalozzistraße in dieser alten liberalen Tradition?
Wir verfassen in den folgenden Wochen ein Pamphlet und sprechen alle uns bekannten Frauen in der Gemeinde an – darunter auch die weiblichen Mitglieder der Repräsentantenversammlung, die Religionslehrerinnen, die Mitarbeiterinnen der verschiedenen Gemeindeabteilungen, die
WIZO
-Frauen sowie viele Ehefrauen von einflussreichen männlichen Persönlichkeiten – und haben nach nur wenigen Tagen schon mehr als 100 Unterschriften von namhaften Frauen. Die Unterschriftenaktion ist schnell in aller Munde. Verschiedene uns wohlgesinnte Gemeindemitarbeiterinnen legen die Listen in ihren Abteilungen aus. Der Vorsitzende der oppositionellen
Demokratischen Liste
ruft uns an, um uns seine Anerkennung für die Aktion zu zollen. Zwei Mitglieder der Repräsentantenversammlung schlagen uns ein Gespräch vor. Dabei erklären sie uns, dass die Zeit nicht mehr reiche, um vor den Wahlen eine nochmalige Diskussion zu führen. Aber unmittelbar danach werde man über eine mögliche Änderung der Satzung nachdenken. In der Tat sind bei den Wahlen zwei Jahre später – sofern die Beter der jeweiligen Synagoge dies mehrheitlich wünschen – auch Frauenwählbar. In den Synagogen Pestalozzistraße und Rykestraße wählen die Beter seitdem Frauen als »kooptierte« Vorstandsmitglieder. In der 1998 gegründeten egalitären Synagoge Oranienburger Straße, in der sich der
Egalitäre Minjan
und der
Gleichberechtigte Gottesdienst
vereinigt haben, werden Frauen von Anfang an als in jeglicher Hinsicht gleichberechtigte
Gabbajot
gewählt.
Der Erfolg unserer Unterschriftenaktion hat mich nicht nur von der Machbarkeit einer Erneuerung innerhalb der bestehenden Strukturen überzeugt – er hat mich auch ins politische Gemeindegeschehen geführt. Ich kenne jetzt die Mitglieder der oppositionellen
Demokratischen Liste
ebenso wie die vom regierenden
Liberal-Jüdischen Block
, viele Gemeindemitarbeiterinnen und aktive Mitglieder. Außerdem habe ich einen ersten Einblick in die Gemeindestrukturen gewonnen.
Unter dem Druck der
Demokratischen Liste
werden zu dieser Zeit die Listenwahlen abgeschafft und stattdessen Personenwahlen eingeführt. Damit soll mehr Transparenz geschaffen beziehungsweise den Gemeindemitgliedern mehr demokratische Verantwortung ermöglicht werden. Im darauffolgenden Mai 1997 können sie sich erstmals in der Geschichte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin für einzelne Kandidaten und deren jeweilige Kompetenzen entscheiden.
Auch ich lasse mich zur Wahl aufstellen.
Im Vorfeld der Abstimmung sollen alle Kandidaten einen kleinen Text verfassen, in dem sie ihre Ziele für die Gemeinde darlegen. Dieser wird in einer Wahlbroschüre in deutscher und russischer Sprache an alle Mitgliederhaushalte verschickt. Es gibt zwei Themen, die in fast jedem Text vorkommen: mehr Gemeindedemokratie sowie die Integration der russischsprachigen Zuwanderer. Mein »Programm« hat jedoch andere Schwerpunkte. Ich plädiere für ein zukunftsorientiertes Judentum – ein Judentum, das am modernen Judentum vor der
Schoa
anknüpft und sich heute positiv in einem europäischen Kontext platziert; ein Judentum, das sich zu den gesellschaftspolitischenFragen der Zeit äußert, nicht nur zum Antisemitismus, sondern auch zu den die Zeitungen beherrschenden Debatten über Gentechnologie, Klonen, Medizinethik oder Sterbehilfe; ein Judentum, in dem Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen selbstverständlich ist, in dem es Rabbinerinnen neben Rabbinern gibt; ein Judentum, das einen inneren Wandel wagt und dem jüdischen Leben in Deutschland und Europa eine lohnenswerte Perspektive aufzeigt.
Jeder Kandidat kann bei zwei Wahlveranstaltungen sein »Programm« vortragen, außerdem laden eine Reihe von jüdischen Vereinen, darunter die
WIZO
, zu weiteren Wahlveranstaltungen ein. Jede Veranstaltung, bei der ich auf dem Podium sitze, führt zu kontroversen Debatten – meistens darüber, ob Frauen nach der
Halacha
gleichberechtigt den jüdischen Ritus praktizieren »dürfen«. Mitunter treffen mich auch Verleumdungen, etwa dass ich einer Sekte, wie
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