Wie ich Rabbinerin wurde
deinenanderen Kleidern passen!« So kaufe ich bei Micaela meinen ersten
Tallit
. Er hat grüne Streifen – dazu eine samtgrüne
Kippa
mit goldener Bestickung. Schon beim Anprobieren – während ich den Stoff mit den
Zizit
um die Schultern lege und in den Spiegel schaue – umhüllt mich das beglückende Gefühl,
tachat kanfej haschechina
– »unter die Flügel der
Schechina
« – zu treten.
Mittlerweile habe ich Unterricht bei Lászlo Pásztor, dem Kantor der Synagoge Pestalozzistraße, der mir – unter dem Versprechen, es vorläufig noch nicht an die große Glocke zu hängen – den
Trop
beibringt. Diesen lernen alle Jungen für ihre
Bar Mizwa
. Eine junge Frau in die Geheimnisse des
Tora- Lejnens
einzuweihen, ist immer noch ein Schritt über eine Schwelle – wenngleich »nicht verboten«, wie Lászlo immer wieder betont. Die Berliner Synagoge Pestalozzistraße ist eine der ganz wenigen Synagogen in Deutschland, in denen Mädchen schon seit langem eine
Bat Mizwa
machen können, jedoch nicht während des Schabbat-Morgengottesdienstes mit seinem Kernstück, der Tora-Lesung, sondern am Freitagabend. Zwar tragen sie dann die
Haftara
vor, werden jedoch künftig keine Gelegenheit mehr bekommen, ihre Fähigkeit noch einmal öffentlich zu demonstrieren. Denn so wie Frauen nicht zum
Minjan
zählen, werden sie auch in der liberalen Synagoge Pestalozzistraße nicht zu den Lesungen aufgerufen.
Schon im
Egalitären Minjan
wende ich meine durch Lászlo Pásztor neu erworbenen Fähigkeiten erstmals an und
lejne
das Stück Tora, das wir an diesem Schabbat lesen. Dort lege ich auch zum ersten Mal meinen
Tallit
um. Die anderen sprechen ein applaudierendes
Schehechejanu
– den Segen für das besondere Ereignis durch Gott, »der uns lebendig und beständig macht und uns diesen Moment erreichen lässt«. Meine erste große öffentliche Tora-Lesung habe ich kurz darauf in Arnoldshain bei der zweiten Tagung der
Vereinigung reformjüdischer und liberaler Gruppierungen und Gemeinden
1996. Im Vorfeld bitte ich darum, beim Schabbat-Morgengottesdienst einen Teil der
Parascha
vortragen zu dürfen.
Es ist kein besonders eingängiger Tora-Abschnitt an diesem Schabbat. Er zählt die Völker auf, die sich bereits im Lande Kanaan befinden, in das die Israeliten nach 40 Jahren Wanderung in der Wüste nunmehr einziehen werden – und ordnet in recht grausamer Sprache deren Vertreibung an. Michael Lawton, der Kantor der Kölner liberalen Gemeinde
Gesher LaMassoret
, hat eine Tora-Rolle mitgebracht. Am Vorabend des Schabbat ruft er mich in einen kleinen Raum, in dem er die Tora-Rolle aufbewahrt, und will prüfen, ob ich der Herausforderung am kommenden Morgen gewachsen bin. Die Rolle liegt eingehüllt in einem Tora-Mantel auf dem Tisch. »Dann zeig mal, was du kannst«, sagt Michael. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich zwar
lejnen
kann, aber immer noch nicht den technischen Ablauf einer Tora-Lesung beherrsche. Also erklärt mir Michael, wie die sieben Personen zur
Alija
aufgerufen werden, wie die
Ba’alat Kerija
mit dem Tora-Zeiger die Textstelle zeigt – wie der oder die Aufgerufene die Stelle mit dem
Tallit
berührt, sie küsst, wie man die
Bracha
sagt, die Tora auf- und wieder zurollt, und wo der oder die Aufgerufene während der Lesung steht. Während Michael dies alles erklärt, hebt sich für mich ein großer Vorhang. Dahinter werden all die geheimnisvollen Handlungen der Männer vorne auf der
Bima
, denen ich als Nicht-Eingeweihte jahrelang nur von der Frauengalerie aus zugeschaut habe, nunmehr für mich durchschaubar.
Der Morgengottesdienst wird zum lang ersehnten Augenblick, in dem sich alle inneren Bewegungen in mir nur auf ein einziges Ereignis konzentrieren. Während Michael vorne die liturgischen Lieder und Melodien anstimmt, tritt ein Mann in den Saal und bleibt staunend über den Anblick einer Frau in
Tallit
und mit
Kippa
an meiner Stuhlreihe stehen. »Das habe ich noch nie gesehen«, sagt er und setzt sich neben mich. Es befinden sich ungefähr 150 Leute in dem zur Synagoge umfunktionierten Tagungssaal. Mein Nachbar und ich streiten ein bisschen, ob Frauen einen
Tallit
tragen »dürfen«, was mir etwas von meiner Nervosität nimmt. Alsdann singt Michael das Auftaktlied, das die Tora-Lesung ankündigt. Er nimmt die Tora inden Arm, geht an den Reihen entlang, damit die Anwesenden sie mit dem
Tallit
berühren. Der Mann neben mir scherzt: »Na, willst du sie nicht auch küssen?« Statt einer Antwort trete ich aus
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