Wie ich Rabbinerin wurde
vollkommen andere jüdische Welt begegnet – ein positiv gestimmtes jüdisches Leben, das sich mit der Machbarkeit des amerikanischen Traumes verbindet und auf die Fähigkeiten des Menschen vertraut. Es lässt sich nicht ohne Weiteres in die europäische Situation übersetzen. Es kennt nicht die antisemitischen Vorkommnisse, über die ich fast täglich Pressemeldungen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin herausgeben muss – Schändungen des Grabes von Heinz Galinski oder der 103 Gräber auf dem Friedhof Weißensee, bisweilen sogar Anschläge auf jüdische Einrichtungen wie in Düsseldorf und Lübeck, begleitet von Debatten über entgleiste Äußerungen: die Walser-Bubis-Debatte, der sich die Möllemann-Friedman-Debatte anschließt, gefolgt von einer Debatte über den CD U-Politiker Hohmann. Es kennt nicht den Antisemitismus und das Gedenken an die
Schoa
, das nicht nur alle Wahrnehmung vom Judentum in Deutschland beherrscht, sondern auch die einzige Klammer bildet, in der die Repräsentanten jüdischen Lebens Einigkeit zeigen. Es kennt auch nicht die heterogene Mitgliedermischung von »Alteingesessenen« und »Neuzuwanderern« der »Einheitsgemeinde« oder die Sitzungen der Berliner Repräsentantenversammlung, in denen sich 21 jüdische Parlamentarier mit gegenseitigen Unterstellungen lahmlegen und zu keinen tragfähigen und zukunftsorientierten Visionen jüdischen Lebens gelangen.
Und doch habe ich in meinem Studium auch gelernt, wie die Lehren der einstigen Juden Europas heute in den USA Früchte tragen – und letztlich auch von uns wieder aufgegriffen werden müssen. Moderne Talmudstudien, moderne Mystik, moderne jüdische Rechtsauffassungen. Ich habe dabei wunderbare Lehrer und Freunde gewonnen – meinen Mentor Moshe Waldoks aus Boston, meinen
Halacha
-Lehrer und Direktor des
Aleph -
Programms Daniel Siegel, oder meine
Chevruta
-Partnerin Lori Klein. Ich habe eine andere Kultur des Umgangs kennengelerntund mich in ihr weiterentwickelt: eine, die am Positiven ansetzt, die Menschen nicht nach ihren Mängeln, sondern nach ihren Fähigkeiten beurteilt – und dabei stets das von Gott gegebene Potential in jedem Menschen anzuerkennen bereit ist. Vor allem aber hat sich für mich die Kluft zwischen der Bedeutung der Religion und der Realität der säkularen Gesellschaft endgültig geschlossen. Es gibt keine tragfähige Ethik, die nicht einen vorangestellten Begriff von Heiligheit in sich birgt. Wer dies verneint, täuscht sich selbst und die anderen. Das Zusammenleben der Menschen steht und fällt mit unserer Art der Heiligung des Lebens.
In der Wartehalle auf dem Flughafen sehe ich zwei mir bekannte Gesichter. Renée Zucker, eine ehemalige Kollegin bei der
taz
, und noch eine andere Frau namens Gabriele Dietze. Wir fliegen zunächst nach Frankfurt, wo wir umsteigen und dann zu drei verschiedenen Zielorten weiterfliegen werden.
Von Renée weiß ich, dass sie einen jüdischen Vater hat – einen Kommunisten, der mit der jüdischen Religion nichts anfangen kann. Als die
taz
ihre große Debatte über die Grenzen stilistischer Freiheit führt, gehört Renée zu denjenigen, die sich an Wörtern wie »gaskammernvoll« um der Meinungsfreiheit willen nicht stößt. Gabriele Dietze arbeitet an der Universität in der Gender-Forschung. Wir fragen uns gegenseitig, wohin wir fliegen. Gabriele braucht einen Ortswechsel und wird eine Weile in Chicago lehren. Renée ist gerade 50 geworden. Sie fliegt nach Goa in Indien, um herauszufinden, was sie mit dem letzten Drittel ihres Lebens anfangen will. Dann sehen die beiden Frauen mich an. »Und du? – Wohin fliegst du?« Es ist Donnerstag früh. »Ich fliege nach Boulder, um am Sonntag als Rabbinerin ordiniert zu werden.«
Die beiden Frauen sind verblüfft. Renée, die ich bislang als antireligiös eingeschätzt habe, sagt: »Wenn
du
Rabbinerin wirst, dann komme
ich
ins Judentum zurück« – was mir als bekräftigende Botschaft bis zur Ordination hinterherhallt.
Bei der Zeremonie sind etwa 200 Rabbiner aus allen Teilen der USA anwesend. Wir fünf Kandidatinnen halten jeweils eine Tora-Auslegung, bevor unsere Mentoren den rabbinischen Segen über uns sprechen. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich es tun soll – dann habe ich mich doch dafür entschieden: Ich schließe in meine Auslegung ein kleines Gebet von Bertha Pappenheim mit ein, der Gründerin der jüdischen Frauenbewegung im Jahre 1904. Erst kürzlich, anlässlich der dritten Tagung von
Bet
Weitere Kostenlose Bücher