Wie ich Rabbinerin wurde
geht, nicht ausreichend. Gleichwohl konnte ich verstehen, wenn eine jüdische Gemeinde, die einen so großen und mutigen Schritt wie die Anstellung einer Rabbinerin wagte, den Weg der größtmöglichen Wiedererkennbarkeit ging und sich für die
Masorti
entschied.
Auch in meiner Berliner Heimatgemeinde, der Synagoge Oranienburger Straße, die ich selbst mit gegründet hatte, setzte sich die konservative
Masorti
-Richtung durch. Meine Zeit dort, wie überhaupt in Berlin, schien abgelaufen. Kurz nach meiner Ordination gab ich meine Anstellung als Pressesprecherin der Jüdischen Gemeinde auf. Ich zweifelte nicht einen Moment daran, dass ich irgendwo und dann an der genau richtigen Stelle rabbinisch wirken würde. Doch hierfür musste ich mich neu orientieren und das Risiko einer temporären Arbeitslosigkeit wagen.
Hatte ich überhaupt Möglichkeiten im Jahre 2004?
In allen mittleren und großen Städten gab es jüdische Gemeinden von beträchtlicher Größe. Überall waren die nach 1989 eingewanderten russischsprachigen Mitglieder in der Mehrheit. Manche Gemeinden bildeten sich ausschließlich aus ihnen. An erster Stelle stand immer noch das Wort »Integration«. Damit war sowohl eine allgemeine Integration in die deutsche Gesellschaft gemeint als auch eine Integration in das Judentum – beziehungsweise das, was davon noch in Deutschland existierte, denn in religiöser Hinsicht war das jüdische Leben stark erodiert. Überdies hatten viele Zuwanderer nach den Jahrzehnten des verordneten Atheismus in der ehemaligen Sowjetunion keine anderen Vorstellungen von gelebter jüdischer Religion als die alten Bilder von Orthodoxie und Chassidismus. In einem solchen Umfeld als eine liberal eingestellte Rabbinerin wirken zu wollen, erschien mir schwierig.
Es kam letztlich nur der Rahmen des in Deutschland mühsam wiederentstehenden liberalen Judentums in Frage. Dessen Entschlossenheit, das jüdisch-religiöse Leben neu zu gestalten, bewegte sich jedoch innerhalb sehr unterschiedlicher, teilweise auch widersprüchlicher Grade. Weiterhin beherrschte das im 19. Jahrhundert entstandene Prinzip der »Einheitsgemeinde« die Situation. Eine Einheitsgemeinde will für alle Juden, egal ob sie orthodox oder liberal, säkular oder religiös eingestellt sind, ein Dach bieten. Religiös gesehen haben sich die Einheitsgemeinden nach der
Schoa
zumeist orthodox orientiert. Außer den Gemeinden der
Union progressiver Juden
, die sich seit den 1990er Jahren gegründet hatten und in der Tradition des Reformjudentums standen, waren alle jüdischen Gemeinden in Deutschland »Einheitsgemeinden«.
Doch trotz ihrer grundsätzlichen Orientierung an der Orthodoxie waren einige Einheitsgemeinden durchaus dem liberalen Judentum gegenüber aufgeschlossen eingestellt. Schließlich hatten Rabbiner wie Nathan Peter Levinson oder Henry G. Brandt schon vor dem liberalen Neuaufbruch in den 1990er Jahren das jüdische Leben in Deutschland mitgeprägt. In mancherEinheitsgemeinde war die Nachfrage nach liberalem Judentum größer, als ich erwartet hatte, und wurde der Bedarf durchaus auch von den russischsprachigen Mitgliedern mitgetragen. So lud mich beispielsweise der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Erfurt mehrfach ein, die Schabbat-Gottesdienste nach einem liberalen Ritus zu gestalten. Bei einer dieser Gelegenheiten weihte ich sogar eine neue Tora-Rolle ein. Zusammen mit Jalda Rebling, die damals eine Ausbildung zur Kantorin machte, hielt ich in Erfurt auch Workshops über die Schabbat-Liturgie. Ich erinnere mich an intensive Begegnungen mit den teilweise sehr motivierten älteren russischsprachigen Frauen. Einige von ihnen konnten kaum Deutsch. Jalda und ich kommunizierten mit ihnen allein über die hebräischen Gesänge. Gleichwohl taten diese Frauen alles, um mit ihrer nunmehr möglich gewordenen äußeren Gleichberechtigung die Gottesdienste zu verstärken. Am darauffolgenden Schabbat hüllten sie sich in die
Tallitot
ein, die ich mitgebracht hatte, und brachten mit ihren Stimmen einen Schabbat zum Erklingen, von dem einen Moment lang alle, nicht zuletzt ihre Ehemänner tief bewegt waren.
Von Schabbat zu Schabbat wurde ich woanders »ausprobiert«. Die im
Egalitären Minjan
zusammengeschlossenen liberal eingestellten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt luden mich ein, beim zehnjährigen Jubiläum der Gruppe zu amtieren und mitzudiskutieren. Die Kölner liberale Gemeinde
Gesher LaMassoret
lud mich ein, mit ihr das
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