Wie ich Rabbinerin wurde
eintauchen – und dabei das System der rabbinischen Argumentation verstehen lernen.
Mein Lehrer merkt bald, dass ich nicht nur wegen Regina Jonas’
halachischer
Arbeit rabbinische Literatur mit ihm lerne. Wie ein Schwamm sauge ich alles auf, was er mir sagt. Ich liebe seine
aschkenasische
Aussprache der Namen und Begriffe und spreche sie genauso aus; ich beobachte ihn, wenn er sich über die großen Seiten des Talmud oder
Schulchan Aruch
beugt und versucht, die verzwickten Botschaften in den kleinstgedruckten Kommentaren zu knacken; ich folge ihm, wenn er mit dem
Gemore-Niggen
, dem Gesangsmodus, die Abwägungen einer Antwort summt; ich bewege mich mit ihm zusammen in Texten, in denen mehrere Jahrhunderte gleichzeitig sprechen. Unter dem Einfluss des Themas ist er inzwischen selbst zum Feminist geworden und macht mich auf die ein oder andere talmudische Stelle aufmerksam, die Regina Jonas nicht berücksichtigt hat. Fasziniert von dieser Welt des endlosen, sich immer weiter fortsetzenden Textes – dem Leben in diesem Text und der Auseinandersetzung mit diesem Text – treibe ich meinen Lehrer an, über die von Jonas zitierten Stellen hinauszugehen. Angesteckt von meiner Begeisterung steigt er mit mir in Textpassagen ein,die mit Jonas’ Arbeit nichts zu tun haben. So lesen wir mitunter auch ziellos – einfach nur dem gemeinsamen Lernvergnügen folgend.
In solchen Momenten taucht er manchmal unvermittelt auf und sieht mich beunruhigt an: »Warum willst du das alles lernen?«
Ich weiche mit einem halben Lachen aus: »Einfach so.« Tatsächlich weiß ich auch nicht, was mich zieht.
»Das interessiert doch heute niemanden mehr«, sagt ausgerechnet er, der ganz im Talmud lebt. »Heute liest man die Zeitung.«
Meine Edition ist inzwischen recht weit gediehen.
Es gibt jedoch ein Zitat von einem Autor, den Regina Jonas anführt, der weder Israel-Meir noch mir bekannt ist: der Maharil. Später wird sich herausstellen, dass es sich um Jakob ben Mose Halevi (geboren 1355 in Mainz, gestorben 1427 in Worms) handelt. Doch es bedarf einiger Zeit, dies herauszufinden. Zunächst will ihn Israel-Meir unter den verschiedenen Kommentatoren in seiner Talmud-Ausgabe suchen. Er nimmt den großen Band mit dem Traktat
Schabbat
aus dem Regal und schlägt die erste Seite auf. Zum ersten Mal lese ich die Liste der Kommentatoren, die in den üblichen Talmud-Editionen mit aufgenommen sind: Raschi, Tossafot, Rabejnu Ascher, Rosch, Maharschal, Maharam … Israel-Meir liest mir jeden Namen vor und erklärt mir, um wen es sich handelt. Dabei entsteht eine geistige Landkarte Europas, in der alle Rabbiner Jahrhunderte hindurch unablässig miteinander kommunizieren. Plötzlich spricht Israel-Meir den Namen »Korban Natanel« aus. Es ist der Talmud-Kommentar eines gewissen Natanel Weill, eines Vorstehers des jüdischen Gerichtshofes in Karlsruhe im 18. Jahrhundert.
In diesem Augenblick dreht sich mir plötzlich die Welt. Natanel Weill?
Av bet din kehillat Karlsruhe?
Ich versuche, meinen Lehrer nach ihm zu befragen. Doch mir fällt weder eine Frage ein, noch weiß er sich zu meiner plötzlichen Aufregung zu verhalten. Ich unterbreche den Unterricht, fahre nach Hause und lege mich hin, weil mir schwindelig ist.
Dann träume ich von Natanel Weill. Seine Stimme sagt mir: »Und jetzt weißt du, warum dein Leben so kompliziert ist.«
Ich wache auf, ziehe aus meinem Bücherregal den Stammbaum meiner Familie, den Lilo vor vielen Jahren von einem ihrer Besuche bei Onkel Ludi aus New York mitgebracht hat. Natanel Weill ist mein Vorfahre. Und wie mir dieser Stammbaum zeigt, reicht eine rabbinische Linie in meiner Familie zurück bis in das Jahr 1360 – angefangen mit einem Juda Weil, der vermutlich aus Spanien nach Süddeutschland gekommen ist.
Diese Botschaft ist für mich in jeglicher Hinsicht überwältigend. Meine jüdische Familie lebt also schon weit mehr als 600 Jahre in Deutschland. Mir ist nur die Zeit der
Schoa
und vielleicht die Generation davor bewusst. Aber das 18., das 17., das 16. Jahrhundert und noch davor? Das sind nicht nur Zeiten der Verfolgung gewesen, sondern auch Zeiten großer Blüte, an denen jede Generation auf ihre Weise mitgewirkt hat. Und was ist mit mir, die ihren eigenen, langen Weg gegangen ist – und sich entschieden hat, hier zu leben? Was mache ich mit diesem geistigen Erbe, das sich sechs bis sieben Jahrhunderte lang in den Generationen niedergeschlagen hat und offensichtlich auch in mir
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